DAS REICH
DER KUNST
Ein Vademekum für Kunstfreunde
und bildende Künstler
Kober'sche Verlagsbuchhandlung
Basel-Leipzig 1933
BÔ YIN RÂ
IST DER DICHTER, PHILOSOPH UND MALER
JOSEPH SCHNEIDERFRANKEN
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1933
KARL WERNER, BUCHDRUCKEREI IN BASEL
 
.Im Jahre 1921 ist dieses Buch zum ersten‐ 
OO
male erschienen.
.Hier liegt nun ein 
Neudruck vor, der zwar 
OO
einige Änderungen bedingte, aber im Ganzen 
OO
als eine durchgesehene Wiedergabe des ursprüng‐ 
OO
lichen Textes gelten darf. Gewisse Wiederholun‐ 
OO
gen habe ich auch in dieser Neubearbeitung nicht 
OO
gestrichen, da es sich ja um eine Sammlung ein‐ 
OO
zelner, ehedem getrennt erschienener Darlegungen 
OO
handelt, so daß jedes Kapitel des Buches als für 
OO
sich abgeschlossen betrachtet werden will.
.Beim 
ersten Erscheinen der vorliegenden 
OO
gesammelten Abhandlungen sagte ich in einem 
OO
kurzen Vorwort:
.„Die Tendenz dieses Buches ergibt sich aus 
OO
seinem Inhaltsverzeichnis. Es will nicht für oder 
OO
gegen irgend eine Kunstrichtung kämpfen, son‐ 
OO
dern aufzuzeigen suchen, was die wertgebenden 
OO
Elemente sind, die das Werk des bildenden 
OO
Künstlers erst zum Range eines 
Kunstwerkes 
OO
erheben, einerlei welcher Kunstauffassung dieses 
OO
Werk seine Formung dankt.”
 
.Ich hatte sodann die durch gewichtige Zu‐ 
OO
stimmungserklärungen aus den Kreisen hervor‐ 
OO
ragender Künstler und Kunstfreunde geförderte 
OO
Hoffnung ausgesprochen, daß das Buch einem 
OO
wirklichen Bedürfnis entsprechen und in der Flut 
OO
moderner Kunstliteratur nicht untergehen möge. 
OO
.Aber ich ahnte dazumal nicht, daß die große 
OO
Auflage schon nach kurzer Zeit vergriffen sein 
OO
würde. Dennoch konnte ich mich, aus Gründen 
OO
rein persönlicher Art, nun schon seit Jahren 
OO
nicht entschließen, einen Neudruck veranstalten 
OO
zu lassen, bis ich doch durch das mir überall 
OO
begegnende ungeminderte Interesse an diesem 
OO
Buche mich bestimmen ließ, meinen vormaligen 
OO
Widerstand gegen sein Wiedererscheinen aufzu‐ 
OO
geben. 
OO
.Nach eigenem Ermessen glaubte ich bei der 
OO
ersten Veröffentlichung der einzelnen Abhand‐ 
OO
lungen auf meine Art eine gewisse Klärung in 
OO
zeitlich arg verwirrte künstlerische Anschauungen 
OO
gebracht zu haben, und vielleicht war auch zu 
OO
erwarten, daß durch meine Darlegungen bei man‐ 
OO
chen vorerst noch „kunstscheuen” Menschen doch 
OO
die Erkenntnis geweckt werden könne: ‒ auch 
OO
sie seien berufen, das Reich der bildenden Kunst 
OO
allmählich kennenzulernen um allda eine ihnen 
OO
noch unbekannte Bereicherung seelischen Lebens 
OO
zu erlangen.
 
.Der Erfolg des danach erschienenen Buches 
OO
hat meine Erwartungen erheblich übertroffen.
.Künstler, Kunstgelehrte, Kunstfreunde, sowie 
OO
auch solche seiner Leser, die durch mein Buch 
OO
erst den Weg zur Kunst 
gefunden haben, ver‐ 
OO
langen heute dringlich sein Wiedererscheinen, 
OO
damit es auch Kreisen zugänglich werden könne, 
OO
die erst durch die bisherigen Leser von seiner 
OO
Existenz vernommen haben.
.So bleibt mir nichts anderes übrig, als meine 
OO
Zustimmung zum Neudruck zu geben, wobei ich 
OO
es nur bedauern muß, daß die ganze Anlage des 
OO
Buches keine kürzere Zusammenfassung zuläßt, 
OO
wenn nicht verzichtet werden soll auf Vieles, 
OO
was bei der raschen Folge neuerer Kunstbeur‐ 
OO
teilungsweisen dem Wohlorientierten zwar nicht 
OO
mehr als erörterungsbedürftig erscheinen mag, ‒ 
OO
was aber der noch kunstferne „Laie”, der gerne 
OO
das ihm vorerst unerschlossene Gebiet betreten 
OO
möchte, keinesfalls missen darf.
.Schließlich beabsichtige ich ja auch nicht, 
OO
hier in formvollendeter und streng gebundener 
OO
Weise etwa Aufgaben lösen zu wollen, die unter 
OO
allen Umständen einer heute hochentwickelten 
OO
und als Lebensberuf anerkannten 
Fachwissen‐ 
OO
schaft vorbehalten bleiben müssen, obwohl mir 
OO
Methode und kritische Hilfsmittel solcher Wis‐ 
OO
senschaft wahrhaftig nicht fremd sind.
 
.Ich will nur, was an mir liegt, dazu beitragen, 
OO
daß das Reich der bildenden Kunst auch solche 
OO
Menschen anziehe, die es bisher fast ängstlich 
OO
für ein ihnen 
verschlossenes, ja 
verbotenes 
OO
Land halten, und ich glaube auch werdenden 
OO
Künstlern da und dort weiterhelfen zu können, 
OO
sofern sie sich selbst verstehen lernen wollen, 
OO
um nicht erst ein halbes Erdenleben lang, ver‐ 
OO
anlaßt durch Ergüsse einer verhängnisvollen Li‐ 
OO
teratur, in den Fesseln irgend einer, ihnen viel‐ 
OO
leicht ganz ungemäßen „Richtung” Fronarbeit 
OO
zu leisten, bevor sie zu ihrem eigenen freien 
OO
Schaffen den Mut finden.
.Was hier nun gesagt werden wird, soll zu‐ 
OO
gleich zur Erkenntnis führen, daß die Werke der 
OO
bildenden Kunst, ‒ wenn es sich wirklich um 
OO
geistgezeugte Werke und nicht um bloße, mehr 
OO
oder weniger routinierte „Mache” handelt, ‒ 
OO
keineswegs nur dazu da sind, dekorative Schmuck‐ 
OO
elemente für die Wände und Räume des äußeren 
OO
Lebens abzugeben, sondern daß die Einwirkung 
OO
wirklicher Kunstwerke 
auf die Seele auch zu 
OO
unerahnter Förderung werden kann für alle, die 
OO
den Weg zum 
wesenhaften Geiste suchen. 
OO
.Die Priester der Kulte des Altertums kannten 
OO
sehr genau die „
Magie der Zeichen” und 
OO
wußten sie zur Erhebung der Seele aus Alltags‐ 
OO
 
wirrwarr in die geklärten Regionen der wesen‐ 
OO
haften Welten des reinen Geistes zu nützen.
.Überkommenes Weisheitsgut solcher Art war 
OO
noch in den großen Meistern bildender Kunst 
OO
des Mittelalters und der Renaissance lebendig 
OO
und ging in ihre hohen Werke ein, so daß ge‐ 
OO
heimnisvolle Kraft aus ihnen noch heute den 
OO
Betrachter überströmt. Ich erinnere hier nur an 
OO
die großen Baumeister dieser Zeiten, an den Maler 
OO
des Isenheimer Altars, und die Plastik im Dom 
OO
zu Naumburg! ‒
.Nach der Barockzeit aber, die ein letztes ju‐ 
OO
belndes Aufleuchten solcher „Magie der Zeichen” 
OO
brachte, verliert sich, geradezu plötzlich, in Künst‐ 
OO
lern und Kunstliebenden das Wissen um die gei‐ 
OO
stige Macht, die dem darstellenden Künstler ge‐ 
OO
geben ist.
.Was von da an künstlerisch gestaltet wurde 
OO
bis auf den heutigen Tag, bringt zwar die Lösung 
OO
vieler Probleme, die den Alten recht wenig be‐ 
OO
deutsam erschienen waren, endet aber jetzt in 
OO
einem unruhigen verkrampften Suchen nach 
OO
Neuem und immer wieder Neuerem, denn die 
OO
Seele des Künstlers selbst, wie die des Beschauers, 
OO
bleibt bei jedem neuen Versuch, Sichtbares künst‐ 
OO
lerisch zu deuten, nach wie vor unbefriedigt, bis 
OO
das Eine wieder erlangt wird, das sich in 
jeder 
OO
persönlichen Darstellungsart zum Ausdruck ge‐ 
OO
 
stalten läßt, wenn es der künstlerisch Schaffende 
OO
wirklich in sich trägt.
.Ich habe anderenortes wahrlich in aller Deut‐ 
OO
lichkeit von diesem „Einen” gesprochen, das 
OO
allein not tut, das aber vor allem 
der schaffende 
OO
Künstler in sich lebendig fühlen muß, wenn er 
OO
durch sein Werk der Seele des nacherlebenden 
OO
Betrachtenden die Erhebung und Förderung brin‐ 
OO
gen will, die von der bildenden Kunst her ‒ 
OO
und nur durch sie ‒ erlangbar sind.
.Dieses Unerläßliche zeigt sich nicht etwa in 
OO
der Wahl der künstlerisch dargestellten Gegen‐ 
OO
stände!
.In jeglicher Form wird es erkennbar, wenn es 
OO
der Schöpfer dieser Form in sich selber trägt. 
OO
.Die formende Hand des Künstlers bringt dieses 
OO
Allerinnerste unweigerlich zur Offenbarung, wenn 
OO
es wirklich in ihm lebendig ist, aber keine Bra‐ 
OO
vour des formalen Könnens wird es dem kun‐ 
OO
digen Betrachter eines Bildwerkes jemals vortäu‐ 
OO
schen können.
 
.Der bildende Künstler, wie weit er auch im 
OO
schöpferischen Gestalten seiner Zeit vorauseilen 
OO
mag, bleibt doch immer ein „Kind seiner Zeit”.
.So war es vor Jahrtausenden, ‒ so ist es 
OO
heute, ‒ und nicht anders wird es auch in Zu‐ 
OO
kunft sein.
.Was die Zeit, in der ein Künstler lebt, bereits 
OO
an künstlerischer Form begriffen hat, das gibt 
OO
sie ihm mit, als erstes Verständigungsmittel: ‒ 
OO
als erstes Material zur Gestaltung eigener kunst‐ 
OO
gemäßer Ideen.
.Der Epigone, der sein höchstes Ziel nur im 
OO
Erreichen des bereits 
vor ihm Vorhandenen 
OO
sieht, bleibt lebenslang innerhalb der Grenzen, 
OO
die ihm das künstlerische Verstehen seiner Zeit 
OO
zu Anfang absteckte.
.Von allen ihn umgebenden Zeitbedingten wird 
OO
er mühelos „verstanden”, und auf recht bequeme 
OO
Weise findet er gewöhnlich bald Anerkennung 
OO
und Ruhm, indem er nur das Edelmetall aus‐ 
OO
münzt, das Andere, 
Größere als er, einst aus 
OO
ihrer innersten Tiefe zutage schürften.
 
.Oft genug ist der solcherart Selbstzufriedene 
OO
auch zugleich „Münzfälscher” und gibt dann für 
OO
gutes Gold aus, was er im eigenen Tiegel mit 
OO
allerlei billigem Unedlen mengte.
.Anders der wirklich 
Schaffende, der aus 
OO
Urtiefen des Geistes, die kein Senkblei psycho‐ 
OO
logischer Forschung restlos ergründen kann, An‐ 
OO
trieb und Kraft zu seiner Schöpfung empfängt! 
OO
.Auch ihm übergibt seine Zeit die ihr gewor‐ 
OO
denen Darstellungsmittel als Behelf zu erster 
OO
Gestaltung.
.Bald aber treibt ihn inneres, in der Ehrlich‐ 
OO
keit vor sich selbst begründetes 
Müssen aus 
OO
dem engen Kreise, den er mit solchem Behelf 
OO
durchreicht, hinaus, empor, und er sieht sich ge‐ 
OO
zwungen, Form und Darstellungskonvention sei‐ 
OO
ner Zeit zu durchbrechen, will er sein Stärkstes 
OO
und Bestes nicht verkümmern lassen.
.Die 
hemmenden Kräfte, die gerade in sei‐ 
OO
ner Zeit sich auswirken, stemmen sich ihm ent‐ 
OO
gegen, aber ob sein Weg nun auch durch Armut 
OO
und Not führen mag, ‒ er 
muß ihn zu Ende 
OO
gehen!
.Nur die wenigen echten 
Schaffenden aber 
OO
erzeugen, „bilden” mit wahrer Bildnerkraft die 
OO
bleibenden künstlerischen Werte einer Zeit!
 
.Mag der Schöpfer dieser Werte im Elend 
OO
seine Tage beschließen, so bleibt doch sein 
OO
Werk, in dem die Gottheit wohnt, allen kom‐ 
OO
menden Zeiten gestaltet.
.Fast will es wie eine besondere Gunst des 
OO
Schicksals erscheinen, wenn ein solcher wirkli‐ 
OO
cher Schaffender nach mancherlei Entbehrung 
OO
noch die Tage erlebt, da man sein Werk den 
OO
Werten der Zeit endlich einzuordnen weiß, aber 
OO
auch dann bleibt es unabhängig von zeitlich wer‐ 
OO
tender Willkür, weil 
Ewiges, schon 
in der 
OO
Stunde, in der ein solches Werk 
geschaffen 
OO
wurde, seinen bleibenden Wert bestimmte.
.Für die Mit- und Nachwelt bleibt zwar die 
OO
Erhaltung des Werkes 
immer bedeutsam, 
OO
allein der 
ewigkeitsgültige Wert ist 
im 
OO
Schaffensvorgang selbst gegeben, und bleibt 
OO
geistig bestehen, auch wenn das sichtbare Werk 
OO
längst zerstört ist.
.Um in diesem Satz nicht eine leere Behaup‐ 
OO
tung zu sehen, muß man freilich erkannt haben, 
OO
daß alle menschliche Gestaltungskraft 
ewiger 
OO
Schöpferkraft einbezogen ist, und wie diese, 
OO
hoch über aller, ihr möglichen Gestaltung er‐ 
OO
halten bleibt, einerlei, welche Schicksale das Ge‐ 
OO
staltete erleidet.
 
.Zu den echten 
Schaffenden muß der Blick 
OO
sich wenden, will man erkennen lernen, was bil‐ 
OO
dende Kunst als Lebensfaktor bedeutet!
.Es ist aber nicht genügend, in dem Werke 
OO
der wahrhaft Schöpferischen nur die Elemente 
OO
zu entdecken, die sie 
ihrer Zeit verdanken: ‒ 
OO
man muß vielmehr zu erfühlen suchen, was ihr 
OO
Schaffen 
aus der Ewigkeit ins Zeitliche 
OO
holte, ‒ was es so der Zeit an 
Neuem, vor‐ 
OO
her 
noch nicht im Zeitlichen Geformten gab: 
OO
‒ ‒ wie das Werk der Schaffenden 
die Zeit 
OO
erst 
formte, in der es entstand. ‒
.Eine jede Zeit bleibt nur chaotische Ansamm‐ 
OO
lung vieler und vielgestaltiger Einzelwillen, so‐ 
OO
lange sie noch nicht ihre 
Form empfing aus 
OO
der Hand der wirklichen Formbildner: ‒ ihrer 
OO
echten 
Schaffenden unter den 
bildenden 
OO
Künstlern!
.Niemals hätte die hohe Kultur des alten 
Hel‐ 
OO
las ihre göttlich-erhabene Blüte entfalten können, 
OO
ohne die Werke der großen Bildner, die dem 
OO
Empfinden ihrer Zeit den sinnenfälligen Aus‐ 
OO
druck, ‒ 
das göttliche Symbol ‒ schufen, 
OO
durch dessen Formgewalt jeder Fühlende sich 
OO
bestimmt fand, mochten auch die Künstler 
OO
selbst 
die Kraft zu solcher Formgebung 
der 
OO
Zeit verdanken, aus der sie emporgewachsen 
OO
waren. 
OO
 
.Sie selbst wußten weit über ihre Zeit empor 
OO
zu weisen, indem sie ihren Zeitgenossen vor-bil‐ 
OO
deten, was diese 
zu werden fähig seien.
.Das Beste der Kultur des 
Mittelalters und 
OO
der 
Renaissance ist undenkbar ohne ein be‐ 
OO
stimmendes, durch hohe Bildner geschaffenes 
OO
göttliches Symbol: ‒ das in allen damals 
OO
gestalteten Werken der gluterfüllten Maler, Pla‐ 
OO
stiker und Architekten erkennbar wird, die noch 
OO
heute der Nachwelt Bewunderung finden.
.Genährt vom Kulturwillen ihrer Zeit, stellten 
OO
alle diese große Schaffenden das 
Ideal solchen 
OO
Kulturwillens sichtbarlich und 
in höchster Voll‐ 
OO
endung in ihren Werken dar.
.Sie zeigten 
nicht, wie ihre Zeitgenossen wirk‐ 
OO
lich 
waren, ‒ denn wahrlich gab es zu ihrer 
OO
Zeit auch des Niedrigen und Gemeinen gerade 
OO
genug, ‒ sondern wie sich ihre Zeitgenossen 
OO
gesehen wissen wollten, durchdrungen von 
OO
dem starken Willen zur steten 
Erhöhung ihrer 
OO
eigenwüchsigen Kultur!
.Nicht ihr Fehlwertiges, nicht das, was 
OO
erkannt war als ein 
zu Überwindendes, stell‐ 
OO
ten sie dar, ‒ sondern das 
Göttliche, dessen 
OO
Spuren sie auch unter tierischer Hülle zu ge‐ 
OO
wahren wußten.
.Ihre Werke sprachen mit lauter Stimme:
 
.„Seht, das ist die Welt, die unsere Besten 
OO
ahnen!” 
OO
.So wirkte ihr Werk auf die Seelen gleichsam 
OO
als „
Vor-Bild” dessen, was der Mensch 
aus sich 
OO
machen könne, was er zu 
werden vermöge.
.So holte ihr Werk in den Seelen Kräfte aus 
OO
der Tiefe, die ohne solchen Erweckungsruf nie‐ 
OO
mals schaffend und zeugend ins Leben eingewirkt 
OO
hätten, und die Mächtigen der äußeren Gewalt 
OO
wußten sehr wohl, was sie den großen Bildnern 
OO
ihrer Zeit zu danken hatten.
.Das wußte noch 
jede Zeit hoher und vom 
OO
Willen zu großer Lebensformung durchströmter 
OO
Kultur!
.Wer vermag es, sich die großen Zeiten der 
OO
Vergangenheit 
auf gleicher Höhe vorzustellen, 
OO
ohne ihre Schaffenden und Kundigen der Magie 
OO
der Zeichen: ‒ 
ohne ihre 
gestaltenden 
OO
Künstler und deren bleibende Werke!? ‒
.Auch unsere Zeit, unleugbar des größten 
OO
Kraftaufwandes und hingebendster Arbeit fähig, 
OO
aber so bettelarm an selbstgeschaffenen 
kultu‐ 
OO
rellen Werten, kann niemals zu ihrer eigenen, 
OO
von Dichtern und Denkern vorgefühlten wirk‐ 
OO
lichen Kultur gelangen, ja nicht einmal zur Voll‐ 
OO
endung ihrer Zivilisation, wenn man nicht end‐ 
OO
 
lich doch wieder einsehen lernt, daß es ein Un‐ 
OO
ding ist, Kultur zu fordern oder zu erwarten, 
OO
solange bildende Kunst nur gerade noch 
ge‐ 
OO
duldet wird, solange selbst Menschen, die sich 
OO
zu den „Gebildeten” rechnen 
dürfen, völlig in 
OO
Unsicherheit geraten, wenn sie die Mache eines 
OO
geschickten Routiniers von dem Werke eines wirk‐ 
OO
lichen Schaffenden unterscheiden sollen.
.Man glaubt mit dem Erkämpfen politischer 
OO
und sozialer Forderungen, mit Höchstleistungen 
OO
auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik, 
OO
mit einer „Kunstpflege”, die sich im Wesent‐ 
OO
lichen nur der Literatur, der Musik und dem 
OO
Theater widmet, die ersehnte Kultur erreichen 
OO
zu können und sieht nicht, daß alle diese Be‐ 
OO
strebungen, so richtig und wichtig sie auch an 
OO
sich sind, keine 
dauernden Wirkungen auf das 
OO
Leben zeitigen können, solange die Beziehungen 
OO
zu 
bildender Kunst nicht mit gleicher Hin‐ 
OO
gabe und Energie gepflegt werden.
.Ein Zeitalter, das noch die Werke seiner bil‐ 
OO
denden Künstler unter den allenfalls leicht ent‐ 
OO
behrlichen Luxus rechnet, ohne sie zu befragen 
OO
nach dem Sinn seines Kulturideals, ‒ ohne mit 
OO
Entschiedenheit Antwort auf solche Frage zu 
OO
verlangen, ‒ ein Volk, das sich nur mehr 
OO
nebenbei und wenn es gerade „anstandshalber” 
OO
 
nicht anders gehen will, an seine großen Schaf‐ 
OO
fenden unter den bildenden Künstlern erinnert, 
OO
kann es zu keiner in der Tiefe verankerten 
OO
Kultur bringen, auch wenn es sehnlichst danach 
OO
verlangt.
.Es genügt nicht, daß man sich, wenn wieder 
OO
einmal ein bildender Künstler gestorben ist, durch 
OO
die Zeitung darüber informieren läßt, daß er 
OO
auch am Leben war, während man nichts von 
OO
ihm wußte.
.Wurden in der neueren Zeit die arkadischen 
OO
Gefilde bildender Kunst zu einem wilden Tum‐ 
OO
melplatz erregter Experimentatoren, denen so 
OO
mancher bedächtig schlau nachlief, weil es ihm 
OO
anders zu langsam zu gehen schien mit dem Be‐ 
OO
rühmtwerden, so liegt die Schuld weit mehr 
an 
OO
der Verwahrlosung des künstlerischen 
OO
Urteilsvermögens auf seiten derer, für die 
OO
Kunst 
ein Bedürfnis der Seele sein sollte, 
OO
als an der inneren Unsicherheit der herangezüch‐ 
OO
teten Künstler, die sich mitten im Kampf ums 
OO
Dasein sehen und schon aus Selbsterhaltungs‐ 
OO
trieb, um jeden Preis siegen möchten.
.Die Ignoranz gegenüber der bildenden Kunst 
OO
schädigt 
alle: ‒ das Volk, das seine bildenden 
OO
Künstler für ausgemachte Sonderlinge hält, weil 
OO
es den Kontakt mit ihrem Streben verloren hat, 
OO
 
und den Künstler, der jede Beziehung zu seinem 
OO
Volke verliert, sich in abstruses Erfindenwollen 
OO
neuer Darstellungsgesten verkrampft, weil all sein 
OO
Sagenkönnen auf die ihm angeborene Weise ein‐ 
OO
fach 
unbeachtet bleibt.
.Keine Kunstrichtung, keine Schule kommt zu 
OO
reifer Auswirkung.
.Alles bleibt schon in den ersten Anfängen 
OO
stecken, oder entartet zu steriler Manier.
.Unruhig tasten die jüngeren Künstler nach 
OO
neuen Formgesetzen, weil sie auch ihren be‐ 
OO
sten Werken gegenüber jeden Widerhall in der 
OO
eigenen Volksgemeinschaft vermissen.
.Gewiß werden auf diese Weise zuweilen auch 
OO
neue Wege gebahnt, aber nur um in kurzer Zeit 
OO
wieder verschüttet zu werden, noch bevor sie zu 
OO
Ende gegangen werden konnten.
.Noch hat ja kaum der 
Impressionismus 
OO
sein Gestaltungsideal in einigen vollendeten Mei‐ 
OO
stern 
gezeigt, da gilt er auch schon als „über‐ 
OO
wunden”, als „eine Sache von vorgestern”, mit 
OO
der man sich nicht mehr befassen darf, wenn 
OO
man nicht in den Ruf gelangen will, verständnis‐ 
OO
los den seither aufgetauchten Erzeugnissen künst‐ 
OO
lerischen Wollens gegenüberzustehen.
.Aber der Impressionismus hat ja noch kei‐ 
OO
 
neswegs in seiner Form allen 
Inhalt erschöpft, 
OO
der gerade 
dieser Darstellungsauffassung zu‐ 
OO
kommen könnte!
.Warum soll er nicht auch weiterhin von de‐ 
OO
nen gepflegt werden, die durch naturhafte Ver‐ 
OO
anlagung für 
seine Ausdrucksart 
mehr Talent 
OO
mitbringen als für jede andere?! ‒
.Wie lange wird es noch dauern, und die „neue 
OO
Sachlichkeit” ist ebenso wieder „überwunden” 
OO
wie heute schon der „Expressionismus” für die 
OO
Eilfertigen abgetan ist, lange bevor es noch dieser 
OO
Kunstauffassung gelingen konnte, sich zu einer 
OO
Kunst deutbarer Symbole zu klären, als welche 
OO
sie gewiß auch zu Schöpfungen von bleibendem 
OO
Werte hätte führen können!
.Die Künstler sehen selbst nicht mehr, daß 
OO
ihr Reich 
unendlich ist, und daß in 
jeder 
OO
Kunstform, welcher Auffassung des Kunstschaf‐ 
OO
fens sie auch ihr Dasein danken möge, 
Ewiges 
OO
gestaltbar ist, wenn der Schaffende nur selbst an 
OO
das Ewige hinanzureichen vermag. ‒ Ich rede 
OO
hier nicht von 
gedanklich-
literarisch Gestalt‐ 
OO
barem, sondern von der Gestaltung aus den Form‐ 
OO
elementen 
bildender Kunst!
.Alles Suchen nach neuer Form ist sinnlos, 
OO
wenn jede gefundene Form alsbald wieder ver‐ 
OO
 
worfen wird, noch bevor der in ihr gestaltbare 
OO
Inhalt erschöpft ist.
.Es ist ein seichter Irrtum, daß der 
Impres‐ 
OO
sionismus allein einer 
materialistischen 
OO
Weltanschauung entspräche, und daß man 
Gei‐ 
OO
stiges nur auf die Weise des 
Expressionis‐ 
OO
mus ausdrücken könne.
.In 
beiden Kunstformen läßt sich natürlich 
OO
immer nur 
das ausdrücken, was der Maler wirk‐ 
OO
lich 
in seiner Seele trägt, und was ihm seine 
OO
Seele 
eröffnet.
.Was sich dann mit den Mitteln 
impressio‐ 
OO
nistischer Kunst sagen läßt, wird niemals auf 
OO
expressionistische Weise zu sagen möglich 
OO
sein, während expressionistischer Auffassung Ge‐ 
OO
biete vorbehalten bleiben, denen der Impressio‐ 
OO
nist weder nahen kann noch will.
.Die ganze Verwirrung heutiger Kunstbegriffe 
OO
ist eine Folge der 
Hast unserer Zeit. Man drängt 
OO
zu Wirkung und Erfolg, wie die Eintagsfliegen 
OO
zum Licht der Gartenlampe.
.Letzte Ursache dieses Einbruchs nervösen 
OO
Hastens in das weihevolle Reich der bildenden 
OO
Kunst ist aber die durch Ignoranz ihrer Mit‐ 
OO
menschen hervorgerufene innere Not der Künstler, 
OO
 
die ja gewiß nicht daran zu zweifeln vermögen, 
OO
daß die bildende Kunst zu den wichtigsten Fak‐ 
OO
toren geistig-kulturellen Lebens gehört, aber 
OO
gleichzeitig sehen müssen, daß man ihrem Tun 
OO
nur dann Beachtung schenkt, wenn sie sich 
OO
durch verwegene Kapriolen oder brüske Motiv‐ 
OO
wahl Beachtung 
erzwingen.
.Würde das Werk des bildenden Künstlers 
OO
auch wieder als 
Lebensfaktor allgemein 
ge‐ 
OO
wertet, dann könnten, ‒ wie in den großen 
OO
Zeiten der alten Kunst 
Japans, ‒ bei uns 
OO
heute 
alle neueren Kunstrichtungen fried‐ 
OO
lich nebeneinander zu ihrer Auswirkung kom‐ 
OO
men, und es entstünde alsdann in allen das Beste, 
OO
was sie zu geben imstande sind: 
Vor-Bildung 
OO
dessen, was Bildnerkraft 
im Menschen als 
OO
zukunftsmöglich erspürt.
.Nur in solcher 
Freiheit vor jedem Schlag‐ 
OO
wortzwang kann schließlich die große Kunst er‐ 
OO
stehen, die wieder fähig ist 
göttliches Symbol 
OO
zu formen und damit das Vor-Bild zukünftiger 
OO
Zeitbildung: ‒ 
wirklicher Kultur!
 
.Solange es noch den meisten Menschen näher 
OO
liegt, spottbereit und überlegen die Achseln zu 
OO
zucken, wenn sie von der unschätzbaren Berei‐ 
OO
cherung hören, die aus dem Schaffen seiner bil‐ 
OO
denden Künstler dem Geistesleben eines Volkes 
OO
zuströmen 
kann, ‒ solange haben wir noch gar 
OO
keinen Grund, uns auf gutem Wege zu der uns 
OO
zeit- und artgemäßen Kultur zu glauben, die so 
OO
viele gar schon „erreicht” wähnen, und aller Stolz 
OO
auf die Erkenntnishöhe in den Wissenschaften, 
OO
auf die großen Leistungen der Technik und ihre 
OO
Verwertung in der Industrie, darf uns nicht über 
OO
die Tatsache hinwegtäuschen, daß es zwar unter 
OO
vielen Völkern schon Zeiten gewaltiger wirklicher 
OO
Kulturhöhe 
ohne alle unsere neueren Errun‐ 
OO
genschaften gab, daß aber noch 
niemals eine 
OO
große Kultur erreicht wurde, 
ohne die Mitwir‐ 
OO
kung des Vor-
Bild setzenden Schaffens be‐ 
OO
deutender Bildner, auch wenn man heute nur 
OO
von den wenigsten noch die Namen kennt.
.Wo aber ein 
Wille ist, da findet sich bekannt‐ 
OO
lich auch immer ein 
Weg, und darum gilt es, 
OO
zuerst den schlafenden 
Willen zu wecken, den 
OO
Willen 
zu einem kulturvorbereitenden Le‐ 
OO
benszustand, in dem das bildnerische Gestalten 
OO
 
wieder die ihm gebührende Würdigung erfährt, 
OO
da es als 
Notwendigkeit empfunden wird.
.Schaffen und Werk des bildenden Künstlers 
OO
dürfen nicht weiter als „
Luxus” eingeschätzt 
OO
werden, auf den ein mit Lebenssorgen überbür‐ 
OO
detes Volk verzichten müsse, ‒ auf den es auch 
OO
nur verzichten 
könne!
.Der Wille zu einem Lebenszustand, dem bil‐ 
OO
dende Kunst eine 
nicht mehr entbehrliche 
OO
Bereicherung bedeutet, kann jedoch nur aus dem 
OO
Schlafe gerüttelt werden durch die Erkenntnis, 
OO
daß sich im echten Schaffen der bildenden Künst‐ 
OO
ler 
die Seele ihres Volkes selbst offenbart 
OO
und aus der künstlerischen Gestaltung zurück‐ 
OO
wirkt auf die Lebensauffassung derer, die solche 
OO
Gestaltung empfinden lernen und mit ihr vertraut 
OO
werden. Durch die Degeneration seiner zeitlichen 
OO
Mitwelt kann freilich auch der schaffende Bildner 
OO
zum zersetzenden Zeitverderber entarten, aber 
OO
selbst an solcher Entartung läßt sich die 
lebens‐ 
OO
gestaltende Wirkung bildender Kunst, wenn 
OO
auch hier mit 
negativen Vorzeichen, deutlichst 
OO
erweisen.
.Wer allerdings nur seine persönlichen Lieb‐ 
OO
lingsgegenstände, die 
Naturszenerien, die ihn 
OO
etwa auf einer Reise ergriffen haben, oder irgend‐ 
OO
welche 
Begebenheiten, die er für wichtig hält, 
OO
im Bilde dargestellt sehen möchte, der ist vom 
OO
 
Willen zur 
Kunst, von einem Erfassen des 
OO
allein 
Wesentlichen im Kunstwerk, noch gar 
OO
weit entfernt.
.Dergleichen war lange genug im Schwange und 
OO
trägt reichlich Schuld daran, daß so wenige heute 
OO
auch nur 
ahnen, was 
Kunst wirklich 
ist.
.So nehmen doch noch die meisten, der Kunst 
OO
nicht sehr nahestehenden Menschen, übelste 
OO
Kunstprostitution für Kunstwerke „ersten 
OO
Ranges”, und gehen gleichgültig oder gelangweilt 
OO
an 
echter Kunst vorüber, wenn sie sich nicht 
OO
gar berufen fühlen, in vorlauter Weise „Kritik” 
OO
zu üben an Werken, die ihnen noch so uner‐ 
OO
faßbar sind wie ein fernes Gestirn.
.Noch immer blüht eine Industrie allerübelsten 
OO
Kunstersatzes, und von ahnungslosen Käufern 
OO
werden Produkte als vermeintliche „Kunstwerke” 
OO
erworben, die selbst die Kosten des an sie ver‐ 
OO
geudeten Rohmaterials nicht mehr wert sind, 
OO
da dieses Material für alle Zeit nun völlig un‐ 
OO
brauchbar wurde, obwohl man aus ihm auch 
OO
künstlerisch 
Wertvolles hätte gestalten können. 
OO
.Wer aber aufnahmebereit vor ein 
wirkliches 
OO
Kunstwerk hintritt, der darf 
nur dann erwar‐ 
OO
ten, daß es ihm seine reichsten Schätze schenke, 
OO
wenn er es vorerst ganz so betrachtet wie etwa 
OO
ein seltenes 
Naturphänomen, dem er ja auch 
OO
 
erst bewunderungswillig naht, bevor er es nach 
OO
und nach zu ergründen versuchen wird.
.Man glaube doch ja nicht, daß alle die so 
OO
seltsam erscheinenden Werke neuerer Künstler 
OO
immer nur einer skurrilen Laune oder gar bloßer 
OO
Sensationslust ihr Entstehen verdanken, auch 
OO
wenn dies gewiß bei manchen 
Nachläufern der 
OO
echten Schaffenden die auslösenden Momente 
OO
sein mögen, die sie zum Produzieren extravagan‐ 
OO
ter Erzeugnisse verleiten, obwohl 
kein inneres 
OO
Müssen sie zum Verlassen längstgebahnter Wege 
OO
zwingt!
.Bei den 
Echten, die aus innerem 
Müssen 
OO
heraus zu persönlichen Gestaltungsformen gelan‐ 
OO
gen, sind wahrhaftig 
tiefer verankerte Kräfte am 
OO
Werk!
.Hier offenbart sich in menschlichem Schaffen, 
OO
‒ wenn auch oft noch durch irdisch Unzuläng‐ 
OO
liches gehemmt, ‒ der ewige 
Geist, der ausge‐ 
OO
gossen ist über allem, was Menschenantlitz trägt, 
OO
‒ der Geist des 
Lebens, der aus dem Ursein 
OO
strömt, ‒ und ein neues Pfingstwunder will auf 
OO
dem Gebiete menschlicher Gestaltungsfähigkeit 
OO
vor aller Augen Wirklichkeit werden.
.Eine Erneuerung des Angesichts der Erde be‐ 
OO
reitet sich allenthalben vor, und die ersten Strah‐ 
OO
len geistigen Lichtes, das allein diese Erneuerung 
OO
dereinst bewirken wird, sind bereits auch recht 
OO
 
deutlich wahrzunehmen in dem Drange schöpfe‐ 
OO
rischer Bildner, zu einer von allem Hohlen, Leer‐ 
OO
gewordenen und Konventionell-Nichtssagenden 
OO
befreiten Darstellungsart.
.Mehr 
Ehrfurcht vor den Inspirationen des 
OO
Geistes, wie sie der wahrhafte Künstler kennt, 
OO
mehr 
Aufblick zu den Höhen, allwo der echte 
OO
Schöpferische heimisch ist, und mehr 
Gläubig‐ 
OO
keit an geistiges Walten im Schaffen der wirk‐ 
OO
lichen Bildner sind nötig, will man in dem Werke 
OO
der Neuerer die wahren 
Werte erkennen lernen, 
OO
‒ will man mit Sicherheit die Werte rein 
geisti‐ 
OO
ger Ausprägung von den willkürlichen, ausgeklü‐ 
OO
gelten 
Nachahmungsversuchen unterscheiden! 
OO
.Es ist, neben allen geschwinden Akrobaten 
OO
und Marktschreiern, unter den neueren Künst‐ 
OO
lern heute auch wieder, ‒ vorerst noch in aller 
OO
Stille, ‒ ein Geschlecht am Werke, das mit einer 
OO
Inbrunst vor der Staffelei steht, wie einst 
Fra An‐ 
OO
gelico in seiner Zelle von San Marco zu Florenz. 
OO
.Eine echte 
Frömmigkeit der Seele erfüllt 
OO
diese wenigen Gestalter, von der sich ein mo‐ 
OO
derner Alltagsmensch, der dann lachend und 
OO
witzelnd vor ihren ihm so fremdartigen Werken 
OO
steht, 
gar keine Vorstellung bilden kann!
.Es läßt sich solche 
künstlerische Frömmig‐ 
OO
keit sehr wohl mit dem rein 
religiösen Ver‐ 
OO
halten der Menschen vergleichen:
 
.So, wie sich wahrhafte 
religiöse Frömmig‐ 
OO
keit niemals damit begnügen kann, von Anderen 
OO
vorgeformte Gebete gefühlsleer abzuleiern, so 
OO
kann auch der in wahrer 
künstlerischer Fröm‐ 
OO
migkeit Empfindende nur in Formen schaffen, 
OO
die sein Innerstes 
erfühlt hat und die ihn 
bis 
OO
in sein Tiefstes erregen.
.Formen, die ihm „nichts mehr zu sagen” haben, 
OO
kann er auch nicht mehr gebrauchen, um zu sagen, 
OO
was er zu sagen hat.
.Und so, wie das tiefste Gebet der religiösen 
OO
Seele, die 
wirklich ihren 
Gott in sich fand, 
OO
zuerst immer nur ein 
Stammeln sein kann, bis 
OO
dereinst aus solchem Stammeln: Hymnen und 
OO
Psalmen werden können, so ist auch das Werk 
OO
des geistdurchglühten Künstlers oft erst nur ein 
OO
stockendes und des neuen Erfühlens noch nicht 
OO
gewaltiges 
Ausstoßen der Form, bis das Neue 
OO
dereinst klare Sprache wird, in der sich immer 
OO
Größeres und Erhabeneres darstellen läßt.
.Wer in solcher geistigen Erkenntnis der bil‐ 
OO
denden Kunst dieser Tage gegenübertritt, dem 
OO
wird doch so manches Werk bald 
Tieferes zu 
OO
offenbaren haben als er vorher in ihm gesucht 
OO
hätte, ‒ und dann wird ihm sicherlich von 
OO
diesem Tage an auch die Frage beantwortet sein: 
OO
ob die bildende Kunst als „
Luxus”, oder als 
OO
Lebensnotwendigkeit zu werten sei? ‒
 
.Es ist eine bemerkenswerte Erfahrung, die 
OO
jeder mit bildender Kunst Vertraute stets von 
OO
neuem machen kann, daß er von Menschen, die 
OO
erst tastend Bildnerwerk für sich deuten lernen 
OO
möchten, immer wieder gebeten wird, ihnen 
OO
Werke der Kunst zu „
erklären”.
.Nirgends spricht sich die grundfalsche Auf‐ 
OO
fassung weiter Kreise vom Schaffen und Werk 
OO
des bildenden Künstlers deutlicher aus als in 
OO
solchem Verlangen!
.Alle Lektüre „kunsterzieherischer” Schriften, 
OO
alles Anhören „einführender” Vorträge, ja selbst 
OO
das von Vielen so treugläubig betriebene Lesen 
OO
der Zeitungskritik, ‒ natürlich 
vor dem Besuch 
OO
der Ausstellungen! ‒ ‒ scheint den Irrtum 
OO
nicht angreifen zu können: Werke der bilden‐ 
OO
den Kunst seien dem Erfassen näher zu bringen 
OO
durch eine „Erklärung” dessen, was doch nur zu 
OO
sehen und schauend zu 
erfühlen ist.
.Man hat den aufrichtigen 
Wunsch, das Le‐ 
OO
bensgebiet der bildenden Kunst sich erschließen 
OO
zu 
lassen, aber man weiß noch nicht, daß man 
OO
 
es sich nur 
selber erschließen kann, und so 
OO
mangelt es denn am 
Willen, es sich selber zu 
OO
erschließen, ja, man fühlt sich vorläufig wie ein 
OO
Eindringling, fühlt sich ohne wohlerworbene Be‐ 
OO
rechtigung.
.Der Mensch dieser Tage ist so sehr an den 
OO
Gedanken gewöhnt, daß er bei gehörigem Fleiß 
OO
alles 
erlernen könne, wenn es ihm nur richtig 
OO
„erklärt” werde, daß es für alles Erdenkliche, 
OO
dem er nahekommen möchte, „Kurse”, Schulen 
OO
und Lehrstunden geben müsse, so daß er auch 
OO
den inneren Zugang zu Werken der bildenden 
OO
Kunst auf solche Weise allein zu erreichen hofft. 
OO
.Daß hier die Eröffnung des noch Verschlos‐ 
OO
senen erlangt werden könne durch Anwendung 
OO
eigenen Einfühlungsvermögens, ‒ durch 
OO
eine Erweckung des 
eigenen Auges, ‒ kommt 
OO
nur Wenigen in den Sinn.
.Man betrachtet das Werk des bildenden Künst‐ 
OO
lers als eine nur den Eingeweihten verständliche 
OO
Hieroglyphe, die etwas auszusagen habe, was 
OO
erst 
erklärender Worte bedürfe, solle es von 
OO
anderen Beschauern „verstanden” werden.
.So erzeugt man in sich eine durchaus 
un‐ 
OO
künstlerische Einstellung, noch bevor man 
OO
sich auch nur an den Versuch heranwagt, das 
OO
 
was ein Kunstwerk 
wirklich zu sagen hat, in 
OO
sich aufzunehmen.
.Diese 
falsche Einstellung hält viele, die 
OO
sich einst innerlich angetrieben fühlten, das Reich 
OO
der bildenden Kunst ihrem eigenen Seelenleben 
OO
zu erschließen, zeitlebens von jeder echten künst‐ 
OO
lerischen Empfindung fern, und läßt die seeli‐ 
OO
schen Organe allmählich verkümmern, die zu 
OO
künstlerischer Einfühlung nötig sind.
.Immer wieder werden Fähigkeiten als Vor‐ 
OO
spann herangezogen, die wohl auf jedem 
an‐ 
OO
deren Lebensgebiet gute Dienste leisten, auf dem 
OO
Wege zur Kunst aber versagen 
müssen.
.Kunst ist keine Verstandessache!
.Das Wort „Kunstverständnis” hat, streng ge‐ 
OO
nommen, nur den Wert einer alten Scheide‐ 
OO
münze, die man weiterhin kursieren läßt, weil 
OO
man sich an sie gewöhnte, aber was wirklich mit 
OO
diesem Wort 
gemeint ist, hat 
gar nichts mit 
OO
dem 
verstandesmäßig zu Erfassenden zu tun. 
OO
.Kunst kann man 
erfühlen und 
empfinden, 
OO
aber nicht mit dem Verstande erfassen!
.Das, was an einem Werke der bildenden Kunst 
OO
allenfalls dem 
Verstande zugänglich ist, ‒ was 
OO
eine 
Erklärung braucht, oder sich durch 
Worte 
OO
 
näherbringen läßt, geht 
niemals die 
Kunst als 
OO
solche an, auch wenn das 
Technische des 
OO
Werkes zur Erörterung steht!
.Nicht Form und Farbe 
an sich machen ein 
OO
Werk, das aus diesen Grundelementen entstand, 
OO
zum 
Kunstwerk, sondern erst das innere, 
OO
gleichsam organische 
Leben, das die Formen‐ 
OO
und Farbenkomplexe 
erfüllt und ihre Gesamt‐ 
OO
masse zu einer im Werke beschlossenen 
Einheit 
OO
bindet.
.Ideen, die sich mit dem 
Verstande erfassen, 
OO
oder in 
Worten wiedergeben lassen, mögen see‐ 
OO
lisch erheben und begeistern können, aber sie 
OO
sind niemals imstande, das innere 
Leben der 
OO
zu einem Kunstwerk vereinten Formen und 
OO
Farben zu ersetzen.
.Gerade hier aber läßt sich der in Dingen der 
OO
bildenden Kunst Unerfahrene am leichtesten täu‐ 
OO
schen, und so mancher „Künstlerruhm” von vor‐ 
OO
gestern beruhte lediglich auf dieser Täuschung. 
OO
.Man kann ein Mann sehr geistvoller, sehr 
OO
poetischer und sehr hoher 
Ideen sein, ‒ man 
OO
kann dabei auch Pinsel oder Meißel in akade‐ 
OO
misch korrekter Art bis zur Bravour beherrschen, 
OO
‒ aber man braucht deshalb noch lange kein 
OO
Künstler zu sein.
 
.Die Machwerke eines solchen, sonst vielleicht 
OO
ganz ehrenwerten Mannes, der das auch wirkli‐ 
OO
chen 
Künstlern unentbehrliche 
Handwerk 
OO
des Malers oder Plastikers gründlich erlernt ha‐ 
OO
ben mag, können in einer kunstfremden Epoche, 
OO
wie sie ja im großen und ganzen heute noch be‐ 
OO
steht, über alle Maßen bedeutungsvoll und ver‐ 
OO
ehrungswert erscheinen, ‒ können bestaunt wer‐ 
OO
den und große Bewunderung erregen, ‒ und 
OO
haben dennoch mit wirklicher, alle zeitliche 
OO
Modeschätzung überdauernden 
Kunst nicht mehr 
OO
gemeinsam als das äußere 
Material der Dar‐ 
OO
stellung: ‒ Farbe und Leinwand, Bronze oder 
OO
Stein.
.Ein solcher „Hochgeschätzter” seiner Zeit be‐ 
OO
glückte mich einst mit seinem Urteil über 
Hans 
OO
Thoma, und meinte: „
Der Mann ist ja ganz 
OO
bedeutungslos! 
Hat nicht einmal einen ge‐ 
OO
bildeten Strich im Handgelenk!”
.Heute ist der Name des also Urteilenden eben‐ 
OO
so 
vergessen, wie das was er machte, und was 
OO
noch vor ein paar Jahrzehnten von recht vielen 
OO
Leuten als „Kunst” gewertet, und 
weit höher 
OO
honoriert wurde als die Bilder Hans Thomas, 
OO
der damals noch ohne Titel und Würden war, 
OO
wenn er auch den Kundigen längst schon als 
OO
wahrhaft verehrungswürdig galt.
 
.Die 
künstlerische „Idee” eines wahren 
OO
Kunstwerkes ist 
niemals verstandesmäßig zu 
OO
fassen, oder in Worten mitteilbar, wenn vielleicht 
OO
auch unter denen, die sie fühlend zu erfassen 
OO
wissen, ein Wort genügen kann, um auf sie hin‐ 
OO
zuweisen.
.Sie beruht 
allein in jenem gleichsam „orga‐ 
OO
nischen” 
Leben, das der Künstler seinem Werke 
OO
einzusenken wußte.
.Der beste „Erklärer” wird unvermögend sein, 
OO
die rein 
künstlerische „Idee” eines Werkes 
OO
aufzuzeigen, wenn das Einfühlungsvermögen des 
OO
Beschauers in bequemer Trägheit verharrt, ‒ 
OO
wenn der nach „Erklärung” Verlangende der Mei‐ 
OO
nung ist, Kunst „müsse” ihn „erheben”, „er‐ 
OO
freuen”, dürfte aber keine Mitarbeit von ihm 
OO
verlangen.
.So sagte mir einst ein angesehener Hochschul‐ 
OO
lehrer und nicht unbedeutender Spezialist seines 
OO
Faches bei Gelegenheit einer 
Hodler-Ausstel‐ 
OO
lung: ‒ er müsse 
diese Kunst „
prinzipiell” 
OO
ablehnen, denn Kunst habe „die Aufgabe”, ‒ 
OO
„
Genuß” zu vermitteln. Es 
sei ihm aber kein 
OO
Genießen, wenn er, aus anstrengender Berufs‐ 
OO
tätigkeit heraus, sich entschlösse, eine Ausstel‐ 
OO
lung zu besuchen und dort Kunstwerken begegne, 
OO
die erst 
Ansprüche an seinen 
Geist stellten, 
OO
 
‒ womit er natürlich seinen 
Intellekt: sein 
ver‐ 
OO
standesmäßiges Erkenntnisvermögen, meinte. 
OO
.Dabei gehörte aber dieser Gelehrte zu den 
OO
„kunstliebenden” Kreisen seiner Stadt, und wußte 
OO
allerlei holde Mittelmäßigkeit, auch als Käufer, 
OO
weit über Gebühr zu schätzen, so daß er sich 
OO
allen Ernstes für einen „Kunstfreund” hielt.
.Wer in 
solcher Gesinnung an die Werke 
OO
wirklicher 
Kunst herantritt, der darf ruhig alle 
OO
Hoffnung aufgeben, jemals seelisch zu erfahren, 
OO
was Kunst 
ist, ‒ jemals in ein lebendiges Ver‐ 
OO
hältnis zur Kunst zu kommen.
.Lebendiges Verhältnis zur bildenden Kunst 
OO
läßt sich nur durch andauernde vergleichende 
OO
Übung im Kunst-
Beschauen, im Kunst-
Be‐ 
OO
trachten gewinnen, nicht aber durch stetes Be‐ 
OO
lehrtseinwollen, oder durch das Verschlingen von 
OO
allerlei Kunstliteratur, die nur für bereits „Se‐ 
OO
hende” geschrieben ist.
.Sehen, sehen und 
wieder sehen, ‒ 
unbe‐ 
OO
irrt durch eigene Vorurteile, eigene Vorliebe 
OO
oder Abneigung, ‒ nur geleitet durch das Be‐ 
OO
streben, offenen Auges und mit allen Kräften des 
OO
Einfühlungsvermögens das innere „organische” 
OO
Leben im Kunstwerk entdecken zu wollen, ‒ 
OO
das ist der einzige Rat, den man allen geben 
OO
 
kann, die immer wieder fragen: 
warum gewisse 
OO
Werke großer Kunst, die dem Unkundigen viel‐ 
OO
leicht gar, des dargestellten Gegenstandes oder 
OO
der Technik wegen, „scheußlich” erscheinen, 
OO
wirkliche Kunstwerke seien, während der 
OO
doch so viel „schönere” liebe Kitsch auf die mit 
OO
Kunst Vertrauten sichtlich wie ein Brechmittel 
OO
wirke?
.Jeder, der in ein inneres Verhältnis zur bil‐ 
OO
denden Kunst gekommen ist, mußte einst auf die 
OO
gleiche Weise beginnen.
.So, wie das Kind in der Wiege, das nach dem 
OO
Mond greift, weil er ihm nahe erscheint, erst 
OO
sehen lernen muß, um Entfernungen abschätzen 
OO
zu können, so muß auch der Erwachsene erst 
OO
sehen „
lernen”, bevor er imstande ist, den un‐ 
OO
geheuren Abstand zu ermessen, der zwischen 
OO
einer mit Pinsel oder Meißel hervorgebrachten 
OO
Mache und einem wirklichen 
Kunstwerk 
OO
besteht.
.Es mag dabei ratsam erscheinen, immerhin 
OO
das Urteil 
solcher Menschen zu 
beachten, 
OO
deren entwickeltes Kunstgefühl keine Verwechs‐ 
OO
lung von Kunst und Unkunst 
zuläßt, und die 
OO
zugleich ihre eigenen Vorlieben und Abneigungen 
OO
soweit meistern, daß sie zum Wertgebenden in 
OO
jeder Kunstrichtung vorzudringen vermögen.
 
.Aber auch das Urteil eines Menschen, dessen 
OO
subjektiv unbeeinflußtes Kunstgefühl ganz außer 
OO
Frage steht, kann immer nur insoweit fördern, 
OO
als es lehrt, alles 
Unkünstlerische, alles Halbe 
OO
und Unechte 
auszuscheiden.
.Es kann nur den Kreis des „Studienmaterials” 
OO
auf das wirklich 
Wertvolle einschränken, und 
OO
dadurch 
ein Abirren vermeiden lehren.
.In dem Echten und Wertvollen dann die 
OO
wirklichen Kunstwerke zu entdecken, muß 
ei‐ 
OO
gener Versenkung, 
eigenem Empfinden, 
eige‐ 
OO
nem Suchen und Vergleichen anheimgestellt 
OO
bleiben.
.Nichts wäre verkehrter als das „Nachbeten” 
OO
auch des sichersten Urteils, dessen 
innere Be‐ 
OO
gründung man nicht 
selbst empfunden hat. 
OO
.Wer aber bestrebt ist, diese innere Begrün‐ 
OO
dung im eigenen Empfinden nachzuerleben, der 
OO
wird bei einiger Ausdauer entdecken, daß das 
OO
Urteil eines wirklich der bildenden Kunst kun‐ 
OO
digen Menschen stets auf den gleichen Grund‐ 
OO
lagen beruht, mag es sich nun um Kunst der 
OO
alten 
Ägypter, der 
Griechen und 
Römer, um 
OO
die Kunst 
Dürers oder das Werk eines als 
OO
„
ultramodern” geltenden wirklichen Künstlers 
OO
handeln.
 
.Nicht die gedankliche Idee, nicht die ge‐ OO
schickte Wahl des Gegenstandes und dessen ding‐ OO
liche Schönheit oder Häßlichkeit, nicht die Art OO
der Naturauffassung und nicht die Technik ent‐ OO
scheiden über den wesentlichen Kunstwert eines OO
Werkes und bestimmen dessen Höhe, sondern OO
einzig und allein der Grad des inneren „organi‐ OO
schen” Lebens ist hier entscheidend, als Aus‐ OO
druck und Widerschein jenes ursprünglichen OO
schöpferischen Lebens, das der wesenhafte, auch OO
den höchsten Intellekt hoch überragende Geist, OO
der „über den Wassern” des Chaos schwebt um OO
aus ihnen immer neues Leben zu zeugen, allein OO
in der Seele des wahren Künstlers sich ent‐ OO
falten läßt, damit es eingehen könne in das reife OO
Werk. OO
.Um künstlerisch „
sehen” zu lernen, muß 
OO
man wieder und wieder 
beste Kunst 
vor Augen 
OO
haben, bis die Seele allmählich das optische Bild 
OO
deuten, und künstlerisch Beseeltes von Unbe‐ 
OO
seeltem 
scheiden lernt.
.Entwickeltes Kunstgefühl ist nur eine Folge 
OO
des tiefen Eindringens in das künstlerisch 
We‐ 
OO
sentliche, das in 
aller wirklichen Kunst zu 
OO
finden ist: ‒ in den Werken der einander fernsten 
OO
Zeiten und Völker, ‒ in allen Schöpfungen ech‐ 
OO
ter Künstler, möge ihr Werk auch durch ganz 
OO
verschiedene, ältere oder neuere Kunstauffassung 
OO
bestimmt worden sein.
.Was auf Reisen, bei gelegentlichen Museums‐ 
OO
und Ausstellungsbesuchen flüchtig betrachtet wird, 
OO
kann zwar dem schon 
urteilssicheren Kunst‐ 
OO
Vertrauten allenfalls dazu dienen, sich 
einen 
OO
neuen Überblick zu verschaffen, hingegen wird 
OO
es den noch Kunst-
Fremden eher 
verwirren 
OO
als belehren.
.Soll Kunstbetrachtung wirklich die 
Urteils‐ 
OO
fähigkeit entwickeln, dann ist vor allem 
Zeit 
OO
zur Vertiefung in das Gesehene nötig.
 
.Der ungeübte Beschauer, dem die Fähigkeit 
OO
zu objektiv richtiger 
Schätzung des Gesehenen 
OO
noch abgeht, wird niemals Gewinn von Kunst‐ 
OO
besichtigungen „im Vorübergehen” haben, ‒ 
OO
handle es sich um eine Galerie alter Meister 
OO
oder um eine Darbietung neuerer Kunstwerke. 
OO
.Die meisten Menschen, auch die auf 
anderen 
OO
Gebieten 
Gebildeten, sind immer noch gewohnt, 
OO
ein Werk der bildenden Kunst in erster Linie 
OO
um seinen 
gegenständlich gegebenen Inhalt zu 
OO
befragen, mögen manche das auch nicht immer 
OO
gern wahrhaben wollen.
.Der 
künstlerisch maß- und wertgebende 
OO
„
Inhalt” eines Werkes der bildenden Kunst ist 
OO
aber 
niemals das gegenständlich 
Dargestellte, 
OO
sondern 
die Darstellung an sich, als Äuße‐ 
OO
rung der künstlerischen Begabung eines kunst‐ 
OO
schöpferischen Menschen!
.Wer in einem Werke der Malerei oder der 
OO
Plastik nur 
das Dargestellte sieht, der sieht 
OO
zunächst lediglich den 
Anlaß, der einen Künstler 
OO
zu einer Äußerung seiner schöpferischen Bega‐ 
OO
bung 
bestimmte.
.Nicht jedes Bildwerk, das dem Auge wohl‐ 
OO
gefällt, und das wohl gar die Bewunderung des 
OO
 
Betrachters erregt, weil der dargestellte Gegen‐ 
OO
stand „zum Greifen 
natürlich” erscheint, ist 
OO
deshalb schon ein Kunstwerk.
.Um ein wirkliches Kunstwerk zu sein und 
OO
somit auch einen über den bloßen Arbeits- und 
OO
Materialwert hinausgehenden, tatsächlich gege‐ 
OO
benen 
Kunstwert zu besitzen, muß eine Dar‐ 
OO
stellung Zeugnis ablegen von der 
Intensität, 
OO
mit der ihr Darsteller die äußere Naturerschei‐ 
OO
nung 
in sich aufnahm, dann in seinem Inneren 
OO
verarbeitete, und sie, nachdem er sie gleich‐ 
OO
sam 
neu schuf, schließlich zum sinnenfälligen 
OO
Werke 
formte.
.Die 
individuelle Eigenart des Schaffen‐ 
OO
den allein bestimmt, bis zu welchem Grade sein 
OO
Werk gleichzeitig auch noch als 
Abbild des 
OO
Naturvorbildes gelten kann.
.Wäre schon jede korrekte und das Auge über‐ 
OO
zeugende Darstellung der Natur 
ein Kunst‐ 
OO
werk, dann hätte man die 
höchste Vollen‐ 
OO
dung der bildenden Kunst unstreitig von der 
OO
Optik und der 
Chemie her zu erwarten, denn 
OO
die endgültige Lösung des Problems der Farben‐ 
OO
photographie müßte dann Werke hervorbringen 
OO
lehren, die alle mit Pinsel und Farbe manuell 
OO
geschaffenen Darstellungen weithin an Kunst‐ 
OO
wert überragen würden.
 
.Das Gleiche gilt von der 
Plastik, denn man 
OO
vermag ja bereits heute schon Plastiken auf 
OO
phototechnischem Wege herzustellen, die an „Na‐ 
OO
turtreue” kaum mehr etwas zu wünschen übrig 
OO
lassen.
.Vielleicht am verständlichsten wird das hier 
OO
Gemeinte ersichtlich innerhalb der 
Architektur. 
OO
.Wohl kann auch der Architekt Anregung zum 
OO
Schaffen durch ein Gebilde der Natur empfangen, 
OO
‒ doch, welches abstruse Mißgebilde würde ent‐ 
OO
stehen, wollte er etwa versuchen, in seinem Werke 
OO
ein Abbild der Naturerscheinung zu geben, 
OO
die sein Schaffen 
befruchtet hat!
.Aber auch nicht die handwerkliche 
Geschick‐ 
OO
lichkeit, mit der etwa die 
Illusion des Gegen‐ 
OO
ständlichen auf der Fläche oder plastisch her‐ 
OO
vorgerufen wurde, erhebt eine Darstellung zum 
OO
Kunstwerk.
.Von wirklicher 
Kunst, von eigentlichem 
OO
Kunstwert darf 
erst dann gesprochen werden, 
OO
wenn das innerlich 
verarbeitete und aus schöpfe‐ 
OO
rischer Kraft 
geformte Werk vorliegt, ‒ nicht 
OO
die bloße „Naturwiedergabe”, die eine vervoll‐ 
OO
kommnete photochemische Technik dereinst 
weit 
OO
fehlerfreier liefern wird, als sie durch manuelle 
OO
Arbeit jemals gegeben werden könnte.
 
.Der Schaffensvorgang im Künstler bedingt in 
OO
aller auf die sichtbare Welt bezogenen Kunst 
OO
gewiß zuerst 
eine besonders intensive Auf‐ 
OO
nahme der optischen Eindrücke durch das 
OO
physische Auge.
.Aber hier schon beginnt eine 
Auswahl, die 
OO
allein vom 
künstlerischen Empfinden be‐ 
OO
stimmt wird.
.Der Künstler wird 
Farben- 
und Linien‐ 
OO
werte, 
Formen und 
räumliche Beziehungen 
OO
in dem Naturvorbild gewahren, die dem Nicht‐ 
OO
künstler nur nach jahrelanger Vorbereitung, nach 
OO
unermüdlicher Schulung seines Auges, zu sehen 
OO
möglich wären.
.Dann aber erfolgt erst in der Seele des Schaf‐ 
OO
fenden die innere 
Verarbeitung der durch phy‐ 
OO
sisches Sehen aufgenommenen Eindrücke, bis 
OO
endlich der eigentliche Schöpfungsakt: ‒ 
das 
OO
Gestalten der künstlerischen Vorstellung, 
OO
sich ereignet.
.Dieses 
im Innern geschaffene Vorstel‐ 
OO
lungsbild wird 
alles in sich enthalten, was 
OO
dem Schaffenden an der Naturerscheinung 
künst‐ 
OO
lerisch wesentlich war: ‒ was sein Tempera‐ 
OO
ment erregte, ‒ was den 
Anlaß zum Schaffen 
OO
bildete, ‒ und wird alles 
ausschalten, was bei 
OO
dem Naturerlebnis 
belanglos blieb.
 
.(Den hier geschilderten Prozeß wird jeder Ma‐ 
OO
schinenbauer leicht verstehen, wenn er daran 
OO
denkt, daß auch er in seiner Zeichnung alle 
OO
Schrauben, Hebel und Räder besonders 
hervor‐ 
OO
heben wird, die ein Verständnis 
der Funk‐ 
OO
tion seiner Maschine vermitteln, auch wenn das 
OO
solcherart Betonte dem Laien an der fertigen 
OO
Maschine kaum besonders auffallen würde, wäh‐ 
OO
rend anderes, das dem Fachmann unwichtig ist 
OO
oder die Klarheit der Zeichnung beeinträchtigen 
OO
könnte, aus der Darstellung ausgeschaltet bleibt.) 
OO
.Der dritte und 
letzte Vorgang im Schaffen 
OO
des bildenden Künstlers ist dann erst 
die sinnen‐ 
OO
faßliche Darstellung.
.Es versteht sich von selbst, daß sie nur in 
OO
einer den 
Gesetzen der Kunst entsprechenden 
OO
Verwendung der Darstellungsmittel erfolgen darf, 
OO
wenn ein wirkliches Kunstwerk entstehen soll. 
OO
.Die Darstellungsmittel selbst aber kann auch 
OO
jeder Nichtkünstler beherrschen lernen.
.Mit mehr oder weniger Begabung zum Zeichnen, 
OO
mit mehr oder weniger Farbengeschmack, wie ihn 
OO
schließlich auch der gute Schaufensterdekorateur 
OO
besitzen muß, läßt sich bei entsprechendem Fleiß 
OO
„Zeichnen” und „Malen” 
erlernen, ja bis zur 
OO
Virtuosität entwickeln.
 
.Was dann ein solcher „geschickter” Zeichner 
OO
oder Maler hervorbringt, mag den „Laien” zu 
OO
staunender Bewunderung hinreißen, und es kann 
OO
auch am rechten Platz, ‒ etwa als Illustration, 
OO
oder dort, wo es sich darum handelt, eine Fläche 
OO
geschmackvoll zu schmücken, ‒ in seiner Art 
OO
vollkommen sein, so daß es hohe Anerkennung 
OO
verdient, aber mit wirklicher 
Kunst hat es nur 
OO
die gleichen Darstellungsmittel und das 
Erlern‐ 
OO
bare gemeinsam.
.Der Schaffende gebraucht die Darstellungs‐ 
OO
mittel, über die er, genau wie jeder andere, 
OO
nur dann frei verfügen kann, wenn er sie durch 
OO
langes Studium in sicheren Besitz brachte, um 
OO
sein inneres künstlerisches Vorstellungsbild, von 
OO
dem oben die Rede war, nach außen hin sicht‐ 
OO
bar erstehen zu lassen.
.Es ist dabei 
einerlei, ob er, wie 
Böcklin, 
OO
nur 
aus der Erinnerung schöpft, wie 
Hodler, 
OO
die Zeichnung unerbittlich nach dem Modell 
OO
berichtigt, oder, wie der urdeutsche 
Leibl 
OO
keinen Pinselstrich macht, ohne seine Berechti‐ 
OO
gung 
vorher scharfsinnig erprüft zu haben.
.In 
allem künstlerischen Schaffen handelt es 
OO
sich um die Wiedergabe des innerlich bereits ge‐ 
OO
stalteten 
Vorstellungsbildes, nicht etwa um 
OO
ein „Abmalen” der äußeren Natur, und selbst 
OO
der scheinbar so ganz vom Naturvorbild ab‐ 
OO
 
hängige, ausgesprochene Impressionist 
Max Lie‐ 
OO
bermann bestätigt das, indem er von seinem 
OO
eigenen Schaffen spricht als von einem steten 
OO
„
Komponieren aus der Phantasie”, wobei 
OO
dem Naturmodell nur die Aufgabe zufalle, diese 
OO
schöpferische Phantasie in lebendiger Erregung 
OO
zu erhalten.
.Aus den Darstellungsmitteln wählt jeder Künst‐ 
OO
ler instinktiv aus, was ihm am ehesten gestattet, 
OO
das was er 
zu sagen hat, in der 
knappesten 
OO
und dabei 
vollkommensten Form zu sagen. 
OO
.„
Zeichnen ist die Kunst 
wegzulassen!” ‒ 
OO
definiert der oben genannte Künstler.
.Auch Malen ist eine Kunst des „
Weglassens!” 
OO
.Jeder Pinselstrich, der zur Darstellung des 
OO
künstlerisch geformten inneren Vorstellungsbil‐ 
OO
des nicht 
unbedingt nötig ist, ergibt ein „Zu‐ 
OO
viel”, 
verringert den Wert des Werkes in der 
OO
Wertung des Kunstkundigen.
.In der 
Plastik ist es nicht anders, wenn man 
OO
vom Merkmal des 
Meißels am Werke sprechen 
OO
will, und daß ein Überwuchern 
architektoni‐ 
OO
scher Formen, die nicht durch den 
Zweck und 
OO
die 
künstlerische Struktur eines Bauwerks 
OO
bedingt sind, seinen Kunstwert 
verringert, 
OO
wenn nicht gar 
völlig in Frage stellt, weiß 
OO
heute doch schon mancher, der den Werken der 
OO
 
Malerei und Plastik noch 
recht unsicher 
OO
gegenübersteht.
.„
Ausgeführt” oder „
fertig” ist ein Werk 
OO
der bildenden Kunst, wenn es das innere künst‐ 
OO
lerische Vorstellungsbild 
zum Ausdruck bringt, 
OO
sei es auch nur durch „skizzenhafte” Andeutun‐ 
OO
gen, während es bei noch so detaillierter und 
OO
glatter Arbeit 
unfertig bleibt, solange es nicht 
OO
der vollendete Ausdruck des innerlich Ge‐ 
OO
sehenen ist.
.Hier mag an das Wort 
Goethes erinnert sein: 
OO
.„
Ein jedes wirkliche Kunstwerk ist in 
OO
jedem Zustande fertig.”
.Ob 
Holbein seine Köpfe glatt und minutiös 
OO
malt, oder 
Frans Hals die seinen mit wuchti‐ 
OO
gen, „skizzenhaften” Pinselhieben hinhackt, ist 
OO
für die Wertung beider Künstler 
absolut gleich‐ 
OO
gültig.
.Wichtig ist allein, ob in der Darstellung un‐ 
OO
bestreitbar das innere, nach immanenten künst‐ 
OO
lerischen Gesetzen „komponierte” Vorstellungs‐ 
OO
bild des Künstlers erfühlbar wird, indem es mit den, 
OO
seinem Temperament entsprechenden, sicher 
OO
beherrschten Darstellungsmitteln zum Ausdruck 
OO
kam. 
OO
 
.Wichtig ist, ob die „Handschrift”, die das 
OO
Werk aufzeigt, wirklich 
ursprünglich, dem 
OO
Künstler wesensgemäß und 
sein eigen ist, oder 
OO
ob nur äußerliche Dressur und glatte Fleißarbeit 
OO
über den Mangel wirklichen künstlerischen Tem‐ 
OO
peraments hinwegtäuschen sollen.
.Alles das muß man aber erst sehen 
lernen, 
OO
bevor man zu einem sicheren Urteil über Werke 
OO
der bildenden Kunst kommen kann, denn solches 
OO
Urteilsvermögen ist ebensowenig „angeboren”, 
OO
wie etwa die Sicherheit, mit der ein Juwelen‐ 
OO
händler wertvolle von fehlerhaften 
Edelsteinen 
OO
oder gar von 
Fälschungen unterscheidet.
 
.Die Freude am Schönen ist dem Menschen 
OO
eingeboren, trotzdem bis heute noch niemand 
OO
imstande ist, eine absolut gültige Definition des 
OO
„Schönen” zu geben.
.Was dem einen Menschen als 
berückend 
OO
schön erscheint, wird von dem andern 
kaum 
OO
beachtet, und ein dritter mag es gar als 
un‐ 
OO
schön empfinden.
.Wie verschiedenartig die Deutungen des 
OO
Begriffes „
Schönheit” ausfallen können, zeigt 
OO
in klarster Weise die Geschichte der 
bildenden 
OO
Kunst.
.Gerade die 
größten Meisterwerke 
Rem‐ 
OO
brandts fanden seine Zeitgenossen 
unschön, 
OO
ja 
häßlich, während sie den Kunstkundigen 
OO
unserer Tage 
eine Welt der Schönheit er‐ 
OO
schließen.
.Bei den Zeitgenossen fanden die süßlichen 
OO
Malereien der späten Nachahmer Raffaels höchste 
OO
Bewunderung, während jeder Urteilssichere 
OO
heute nur mehr 
ein trauriges Dokument des 
OO
Niedergangs in diesen Bildern erblicken kann. 
OO
 
.So wechselten die Meinungen hinsichtlich 
OO
dessen, was als das 
künstlerisch Schöne zu 
OO
gelten habe, nicht anders wie in Bezug auf das 
OO
gegenständlich Schöne 
in der Natur.
.Am deutlichsten zeigt sich vielleicht die Viel‐ 
OO
deutigkeit des Schönheitsbegriffes in der 
neue‐ 
OO
ren Kunst.
.Während der 
eine Betrachter 
berauscht ist 
OO
von der „
Schönheit” eines Werkes, findet es 
OO
der andere „ekelhaft” und „abstoßend”.
.Jeder sucht eben nur die Darstellung seines 
OO
eigenen, recht 
subjektiv bestimmten Schön‐ 
OO
heitsideals, ‒ aber auch dieses 
persönliche 
OO
Ideal ist 
keineswegs unwandelbar, sondern 
OO
wird im Laufe eines Menschenlebens gar oft 
OO
durch Modeströmungen, Zeitgeschmack und ei‐ 
OO
gene Urteilsumbildung beeinflußt, so daß der 
OO
gleiche Mensch in den verschiedenen Zeitfolgen 
OO
seines Erdendaseins zu 
sehr verschiedenen 
OO
Definitionen seines Schönheitsideales gelangen 
OO
kann.
.Erfreulich wird solche Wandlung sein, 
OO
wenn sie aus einer tieferen Erkenntnis 
des 
OO
Wertgebenden in der Kunst hervorging.
.Während man lange Zeit hindurch nur 
die 
OO
Anekdote, den dargestellten 
Vorgang, oder die 
OO
 
möglichst täuschende 
Natur-
Imitation in einem 
OO
Kunstwerk, oder einem Gebilde das als Kunst‐ 
OO
werk 
gelten wollte, bewunderte, fing man eines 
OO
Tages an, alles dieses unbeachtet zu lassen, um 
OO
fortan die Schönheit nur in der besonderen Qua‐ 
OO
lität 
des Technischen: ‒ 
der Virtuosität 
OO
der Mache, ‒ in der „
schönen Epidermis” 
OO
des Werkes zu suchen und zu sehen.
.Heute noch gibt es genug solche begeisterte 
OO
Bewunderer des Pinselraffinements, und 
Manets 
OO
„Spargelbund”, der als Probe stupenden Kön‐ 
OO
nens gewiß hervorragend bleibt, wird von vielen 
OO
nicht nur höher gewertet als seine 
wirklich 
OO
kunstbedeutsamen, aus gleichem Können erwach‐ 
OO
senen Meisterwerke, sondern auch für weitaus 
OO
wertvoller angesehen als, beispielsweise, die 
Six‐ 
OO
tinische Madonna.
.Aber die Zeit, in der solches Urteil genügte, 
OO
um sich als „Kunstkenner” zu erweisen, neigt 
OO
sich doch allmählich wieder ihrem Ende zu.
.Man fängt wieder an, im Künstler nicht nur 
OO
den kapriziösen 
Könner zu sehen, ‒ ja man 
OO
hat leider bereits eine ganz ungerechtfertigte 
OO
Geringschätzung für alles technische Können 
OO
bereit, und läßt sich selbst 
gewollt naiv-unbe‐ 
OO
holfenstes Gebaren im Technischen gefallen, 
OO
 
wenn nur der gesuchte 
geistige Inhalt dahinter 
OO
irgendwie zu erspüren ist.
.Hervorragende „Könner” unter den Künst‐ 
OO
lern dieser Tage kennen kein heißeres Bemühen, 
OO
als die bewußte 
Unterdrückung auch des lei‐ 
OO
sesten Anzeichens ihres Könnens, und gefallen 
OO
sich in einer Darstellungsart, die mehr oder we‐ 
OO
niger den Kunstäußerungen der Naturvölker, 
OO
oder naiven Kinderzeichnungen angeähnelt ist. 
OO
.Nichts wird ärger gefürchtet als der Anschein 
OO
des Virtuosentums, oder die Merkmale einer ho‐ 
OO
hen Kultur des künstlerisch-technischen Dar‐ 
OO
stellens.
.Allerdings geht dieses Streben zum scheinbar 
OO
Allereinfachsten oft so weit, daß man schon wie‐ 
OO
der von einem 
Virtuosentum des Naivsein‐ 
OO
wollens sprechen könnte.
.Solche Erscheinungen wären aber ganz un‐ 
OO
möglich, wenn man heute auch noch, wie vor 
OO
nicht gar langer Zeit, allen Kunstwert eines Wer‐ 
OO
kes nur in der „geistreich” gemalten 
Oberfläche 
OO
sehen würde.
.Man beginnt heute wieder, im bildenden 
OO
Künstler, gleichwie im Dichter und im Kompo‐ 
OO
nisten, den 
Seelendeuter, den 
Künder see‐ 
OO
lischer Erlebnisse, 
den Schürfer in den 
OO
tiefsten Tiefen des noch Ungewußten zu 
OO
 
sehen, und man erwartet vom Maler wie vom 
OO
Plastiker, daß er 
nur solchen Erlebnissen Aus‐ 
OO
druck schaffe, die sich auf 
keine andere Weise, 
OO
als nur mit den Mitteln 
seiner Kunst ausspre‐ 
OO
chen lassen.
.Es fragt sich also, welches die ureigenen Dar‐ 
OO
stellungsmittel sind, über die der bildende Künst‐ 
OO
ler verfügt?
.Da kommen wir denn, wenn wir hier in erster 
OO
Linie einmal die Kunst des 
Malers in Betracht 
OO
ziehen wollen, auf folgende:
.Helle und dunkle Massen, 
Farbflecken, 
OO
sowie deren Umgrenzungen, die sich als 
Linien 
OO
zeigen, wenn auch 
die Linie daneben ein 
Ei‐ 
OO
genleben als Kunstmittel führen kann.
.Auch wenn der Maler eine Anekdote zur Dar‐ 
OO
stellung bringen will, hat er keine anderen Mittel 
OO
zur Verfügung.
.Aber während er bei dem Versuch, den op‐ 
OO
tischen Eindruck äußerer Gegenstände aufs Auge 
OO
zu 
imitieren, seine Mittel mehr oder weniger 
OO
vergewaltigen muß, gleich einem Musiker, der 
OO
die Stimmen von Tieren, oder andere Naturlaute 
OO
nachzuahmen trachtet, wird es sich bei einer 
OO
Darstellung die den künstlerischen Gesetzen ent‐ 
OO
sprechen soll, stets darum handeln, daß alles was 
OO
zu sagen ist, mit den zur Verfügung stehenden 
OO
 
Kunstmitteln gesagt wird, 
ohne ihnen Gewalt 
OO
anzutun.
.Man wird das gut an einem Beispiel verste‐ 
OO
hen lernen:
.Wenn ein „Historienmaler”, in glücklich hin‐ 
OO
ter uns liegenden Tagen, den tragischen Tod 
OO
einer allbekannten geschichtlichen Persönlichkeit 
OO
darstellte, dann benutzte er eine Menge seelisch 
OO
wirksamer Momente, die alle schon 
vor seinem 
OO
Bilde da waren, und die auch durch eine Dar‐ 
OO
stellung 
in Worten, also durch den 
Dichter, 
OO
hätten vermittelt werden können, ja durch bloße 
OO
Kenntnis des historischen Vorgangs schon zum 
OO
Nacherleben kommen konnten.
.Das Werk eines solchen Malers ist zumeist 
OO
nichts anderes als eine gute oder schlechte 
Illu‐ 
OO
stration, mag sie auch in gewaltigen Dimen‐ 
OO
sionen gehalten sein.
.Die gleiche geschichtliche Begebenheit kann 
OO
aber in einem Maler, der sie erschauernd in sich 
OO
nacherlebt, auch Komplexe seelischer Empfin‐ 
OO
dungen auslösen, die 
nur mit den Mitteln 
sei‐ 
OO
ner Kunst darstellbar werden, aber niemals 
OO
durch eine gemalte Schilderung des historischen 
OO
Vorgangs allein, anderen Seelen zum Empfinden 
OO
kommen könnten.
 
.Entweder wird sich dann 
ein Vorstellungs‐ 
OO
bild des Geschehnisses in der Seele des Künst‐ 
OO
lers gestalten, das die 
erzählbare Begebenheit 
OO
auflöst in künstlerisch „sprechende” 
Formen, 
OO
Farben und 
Linien, denen die Kraft innewohnt, 
OO
das vom Künstler Erfühlte auch der Seele des 
OO
Betrachters nahezubringen, oder aber, es wird 
OO
sich das innerlich Erlebte zu einem Werke kri‐ 
OO
stallisieren, das mit der 
Wiedergabe des Vor‐ 
OO
ganges nicht das mindeste zu tun hat.
.Solche neue künstlerische Form kann die 
OO
Wucht und tragische Größe eines Ereignisses 
OO
weit stärker zum Ausdruck bringen als die beste 
OO
Illustration, gerade 
weil der Künstler sich 
nicht 
OO
verleiten ließ, Wirkungen anzustreben, die den 
OO
ureigensten Mitteln seiner Kunst fremd sind.
.Das gleiche gilt von 
jeder Darstellung, 
OO
hinter der ein Schaffensvorgang steht, der durch 
OO
Natureindrücke ausgelöst wurde.
.Die mit feinster Naturbeobachtung erfüllte 
OO
Wiedergabe einer Tanne am Bergabhang kann 
OO
eine vorzügliche Illustration eines botanischen 
OO
oder landschaftsgeographischen Handbuches sein, 
OO
‒ rein 
künstlerisch betrachtet ist ein solches 
OO
Bild aber noch 
unverarbeitetes Rohmaterial, 
OO
solange es nur 
Darstellung bleibt, und nicht, 
OO
 
darüber hinaus, auch durch die Komposition der 
OO
Hell- und Dunkelmassen, der Farben oder Linien, 
OO
einer rein 
künstlerischen Empfindung Aus‐ 
OO
druck gibt.
.Es wäre geradezu möglich, daß ein Künstler 
OO
beim Anblick einer solchen, sehr „naturgetreuen”, 
OO
aber mit 
vergewaltigten Kunstmitteln hervor‐ 
OO
gebrachten Darstellung ein ähnliches Erleben in 
OO
sich empfinden könnte, als stünde er vor dem 
OO
Vorbild der Darstellung 
in der Natur, und daß 
OO
er sich alsdann angeregt fühlen würde, das so 
OO
Empfundene nun mit den 
rein und 
ehrlich 
OO
benützten Mitteln seiner Kunst zum Ausdruck 
OO
zu bringen. (
Utrillo, dessen Ruhm heute vielen 
OO
seiner Bewunderer alle Namen des französischen 
OO
Impressionismus verdunkelt, soll die meisten sei‐ 
OO
ner Bilder nach Anregungen gemalt haben, die 
OO
ihm irgendwelche photographischen 
Ansichts‐ 
OO
postkarten vermittelten.)
.Der 
Kunstwert einer Naturdarstellung wird 
OO
niemals durch die exakte Formtreue dem Vor‐ 
OO
bild gegenüber bestimmt, ‒ auch wenn eine 
OO
„naturgetreue” Darstellung künstlerisch sehr wert‐ 
OO
voll sein 
kann, ‒ sondern das allein „
Kunst‐ 
OO
wert” verleihende innere 
Leben eines wirkli‐ 
OO
chen Kunstwerkes ist stets bedingt durch eine 
OO
Art der Aussprache, die streng den Gesetzen der 
OO
gegebenen Ausdrucksmittel folgt und diese Aus‐ 
OO
 
drucksmittel nicht durch eine kunstfremde Ver‐ 
OO
wendung um ihre innere Kraft bringt.
.Das vollkommene Kunstwerk ist 
eine Welt 
OO
für sich, und in dieser, 
seiner Welt, ist nur 
OO
das von Wert, was wirklich erst 
durch das Werk 
OO
zur Existenz kam.
.Die besondere 
Schönheit eines Kunstwerkes 
OO
besteht darin, daß es ein 
in sich geschlosse‐ 
OO
nes, formal und technisch 
einheitliches, gleich‐ 
OO
sam 
organisch gewachsenes Gebilde voll in‐ 
OO
nerer Harmonie ist, in dem sein Schöpfer 
nur 
OO
das aussagt, was durch die eigentlichen Mittel 
OO
seiner Kunst, ‒ und 
nur durch sie, ‒ ausge‐ 
OO
drückt werden kann, was sich aber weder durch 
OO
das Wort der Dichtung oder Beschreibung, weder 
OO
durch eine Darstellung auf der Bühne, noch 
OO
durch ein Werk der Tonkunst ausdrücken läßt, 
OO
‒ am allerwenigsten jedoch durch die 
Illustra‐ 
OO
tion einer Begebenheit oder eines Zustandes.
.Nur die innere 
Gesetzmäßigkeit, die hier 
OO
gemeint ist, löst in dem kunstkundigen Betrachter 
OO
das Wohlgefühl aus, das wir als Schönheitsemp‐ 
OO
finden bezeichnen.
.Es handelt sich 
nicht darum, einer Empfin‐ 
OO
dung 
irgend einen „wilden” 
Ausdruck zu 
OO
geben!
 
.Kunst entsteht erst dann, wenn das künst‐ 
OO
lerische 
Erleben zur 
Gestaltung einer in allen 
OO
Stücken kunstgemäßen 
Form führte.
.Auch eine 
neue Schönheit, als Bereicherung 
OO
unseres in so vielerlei Strebungen seiner Erfül‐ 
OO
lung entgegentastenden Schönheits-Verlangens, 
OO
kann künstlerisch nicht anders erstehen.
.Nur darf man auch nicht dem Streben nach 
OO
neuer Schönheit 
den Weg verlegen mit den 
OO
schon bekannten Deutungen des so vieldeuti‐ 
OO
gen Schönheitsbegriffes!
.Man füllt nicht „neuen Wein in alte Schläuche”, 
OO
und so soll man auch nicht das neue Schöne in 
OO
Formen erwarten, die es doch nur zersprengen 
OO
müßte, wollte es in ihnen erscheinen.
 
.Aus den Zeiten des klassischen Altertums her 
OO
hat sich eine Künstleranekdote erhalten, in der 
OO
erzählt wird, wie ein Maler Früchte so täuschend 
OO
darzustellen verstand, daß Vögel herbeigeflogen 
OO
kamen, um an gemalten Beeren zu naschen.
.Diese Anekdote spiegelt auch heute noch so 
OO
recht das Verlangen wieder, das die meisten kunst‐ 
OO
fernen Bilderbetrachter durch die Kunst der Ma‐ 
OO
lerei befriedigt sehen möchten.
.Das Vortäuschen der 
Greifbarkeit eines ge‐ 
OO
malten Gegenstandes ist aber bestenfalls nur ein 
OO
scherzhaft erlaubtes „
Kunststück”, das mit 
OO
„Kunst” 
nicht das mindeste zu schaffen hat, 
OO
und keinem sonderlich schwer fällt, der das Hand‐ 
OO
werkliche der Malerei versteht.
.Wäre in solcher Spielerei 
die Kunst des Ma‐ 
OO
lers beschlossen, dann läge wahrhaftig keine Be‐ 
OO
rechtigung vor, den Künstler anders einzuschätzen 
OO
als den Verfertiger künstlicher Blumen und 
OO
Früchte, oder den Modelleur der Wachsfiguren 
OO
eines Panoptikums, was aber durchaus nicht hei‐ 
OO
ßen soll, daß die oft sehr mühselige Arbeit solcher 
OO
 
Spezialisten nicht sehr viel Können und Geschick‐ 
OO
lichkeit erfordere.
.Im Reiche der bildenden Kunst wird 
Anderes 
OO
erstrebt, und wenn auch zuweilen Maler ihre 
OO
Freude daran hatten, das Gegenständliche einer 
OO
Darstellung „bis zur Greifbarkeit” herauszuarbei‐ 
OO
ten, so wußten sie doch auch sehr genau, daß der 
OO
Wert ihres Werkes 
keineswegs in solcher Na‐ 
OO
turspiegelung beschlossen war, ‒ ja, es ist wohl 
OO
anzunehmen, daß manches Werk dieser Art nur 
OO
entstand, weil Auftraggeber und Käufer die Künst‐ 
OO
ler bedrängten und zu einer Darstellungsweise 
OO
nötigten, die sie aus freien Stücken kaum ge‐ 
OO
wählt haben würden.
.Wer das Reich der bildenden Kunst betreten 
OO
will, der sollte den Zuruf in sich fühlen, den der 
OO
biblische Moses hörte vor dem brennenden Busch: 
OO
„Zieh' deine Schuhe von den Füßen, denn der 
OO
Ort den du betreten willst, ist heiliges Land!”
.Was auch ein wirklicher Künstler zu geben 
OO
haben mag, und sollte es dem Motiv nach noch 
OO
so nahe dem „grauen Alltag” stehen, wird immer 
OO
eine Botschaft 
der Seele sein, bestünde sie auch 
OO
nur darin, daß sie sehen lehrte, wie selbst das 
OO
Häßlichste noch einen 
Gottesfunken offenbaren 
OO
kann, der nur im Kunstwerk zu erlösen ist.
 
.Um diese 
Botschaft der Seele handelt es 
OO
sich in 
aller Kunst!
.Die Malerei macht hier keine Ausnahme, so 
OO
sehr es auch den Anschein haben mag, als reize 
OO
den Maler in erster Linie die „
Wiedergabe” 
OO
farbiger Erscheinungen der Außenwelt, etwa um 
OO
ihr Abbild dauernd „festzuhalten”.
.Ich habe schon dargelegt, daß 
dieses Ziel: 
OO
‒ das „Festhalten” des Natureindruckes, ‒ in 
OO
vollkommenster Weise erreicht sein wird, wenn 
OO
es eines Tages gelingt, 
die Photographie in 
OO
natürlichen Farben von den Mängeln zu be‐ 
OO
freien, die ihr derzeit noch anhaften.
.Daß der Maler handwerklich 
fähig ist, mit den 
OO
Mitteln seiner Kunst Gebilde hervorzubringen, 
OO
die durch ihre Wirkung auf das Auge ähnliche 
OO
Reizungen auslösen wie die Dinge der farbigen 
OO
Erscheinungswelt, betraut ihn nur mit der hohen 
OO
Aufgabe, das 
Wort der Seele in den Außen‐ 
OO
dingen zu erlauschen, um sodann im Kunstwerk 
OO
auch Anderen von dem Erlauschten Kunde zu 
OO
bringen.
.Das, was ich hier 
das Wort der Seele nenne, 
OO
wird 
niemals optischen Apparaten und chemi‐ 
OO
schen Verfahren zugänglich sein. Auch alle ge‐ 
OO
schmackvolle „Regie” der Bildwirkungsmittel kann 
OO
 
dem Wort der Seele, das hier gemeint ist, nicht 
OO
den ihm gemäßen Ausdruck schaffen.
.Der 
Künstler nur kann es in sich aufnehmen 
OO
und dann im Werke zum Wiederklang bringen! 
OO
.Der 
Wert eines Kunstwerkes wird niemals 
OO
abhängig sein von dem Grade der 
Täuschung, 
OO
die es auf der Netzhaut des Auges hervorbringt, 
OO
sondern bleibt stets im genauesten Verhältnis zu 
OO
der 
Intensität, oder auch der besonderen 
Innig‐ 
OO
keit, mit der sein Schöpfer das „Wort der Seele” 
OO
in den Naturdingen 
erfaßte und dann im Werke 
OO
auszusprechen wußte.
.Der Mensch trägt in sich auf verschiedene 
OO
Weise die Elemente der gesamten Natur.
.Was nun 
im Äußeren zum Künstler „
spricht” 
OO
und ihm vernehmbar werden will, wird immer 
OO
gerade 
dem gleichen, was er, ‒ als einzigartige 
OO
Individualität, ‒ in 
besonders vollkommener 
OO
Form in sich trägt.
.Daher hat die Natur jedem Künstler 
Anderes 
OO
zu geben!
.Für jeden Schaffenden, der in Andacht und 
OO
Hingebung auf das „Wort der Seele” lauscht, wird 
OO
es sich in anderer, 
neuer Weise offenbaren. ‒ 
OO
.Wie weit der 
Maler die ihm in seinem Hand‐ 
OO
werk dargebotene 
Möglichkeit benutzen will, 
OO
 
Dinge der Außenwelt „täuschend” und „greifbar” 
OO
darzustellen, wird stets davon abhängig sein, bis 
OO
zu welchem Grade die Erinnerung an Naturge‐ 
OO
gebenes erweckt werden muß, um vor dem Kunst‐ 
OO
werk empfinden zu können, was ein individuell 
OO
bestimmtes Künstlernaturell 
zum Ausdruck 
OO
bringen wollte.
.Ist das, was der Künstler innerlich als „Wort 
OO
der Seele” vernahm, schon 
durch knappe An‐ 
OO
deutungen weiterzugeben, die ihre Ausgestaltung 
OO
in der Phantasie des Betrachters finden, dann 
OO
wäre es Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst, 
OO
eine realistische Wiedergabe der Außendinge an‐ 
OO
zustreben.
.Braucht es hingegen 
den sinnlich schönen 
OO
Reiz der Oberfläche jener Dinge, aus denen 
OO
einem Künstler das „Wort der Seele” sprach, 
OO
dann bliebe sein Werk 
unvollendet, wollte er 
OO
sich mit bloßen „Andeutungen” zufrieden geben. 
OO
.Die köstlichen Zeichnungen Wilhelm 
Busch'
s 
OO
würden keineswegs etwa vollkommener sein, wenn 
OO
sie bis ins letzte Detail plastisch durchgebildet 
OO
wären, ‒ hingegen würde einem Stich 
Chodo‐ 
OO
wiecki'
s* die Vollendung fehlen, fehlte ihm die 
OO
minutiöse zeichnerische Behandlung aller darauf 
OO
dargestellten Dinge.
‒ ‒
* Maler und Kupferstecher, 1726-1801.
 
.Die sogenannte „Ausführung” eines Bildes 
OO
ist also immer abhängig von dem seelischen Er‐ 
OO
leben des Künstlers: ‒ von 
dem, was durch das 
OO
Bild von Seele zu Seele 
übertragen werden soll. 
OO
.Die 
Vollendung ist 
erreicht, wenn alles im 
OO
Werke, ‒ sei es größten Formates oder nur eine 
OO
winzige Zeichnung, ‒ wirklich ausgesprochen 
OO
wurde, was der Künstler aussprechen 
wollte. 
OO
.Nicht „
das große Wollen” allein kann dem 
OO
Werke eines Künstlers Bedeutung verleihen!
.Erst dann verdient solches Wollen Beachtung, 
OO
wenn das Werk 
alles zum Ausdruck bringt, 
OO
was „gewollt” worden war! ‒
.Es gibt viele Menschen die künstlerisch zu 
OO
empfinden fähig sind, und viele, die gar Großes 
OO
„wollen”, ‒ den schaffenden 
Künstler macht 
OO
aber erst die Fähigkeit, Empfundenes und Ge‐ 
OO
wolltes auch 
ausdrücken zu 
können, und zwar 
OO
in der Sprache seiner Kunst, ohne Anleihen in 
OO
kunstfremden Bezirken.
.Die Sprache der Kunst hat eherne 
Gesetze! 
OO
.Nicht anders als in der 
Musik, wo jede Ton‐ 
OO
folge 
gesetzmäßig begründet sein muß, wenn 
OO
überhaupt von „
Kunst” die Rede sein soll, wird 
OO
auch in der 
Malerei eine strenge 
Gesetzmäßig‐ 
OO
 
keit verlangt, deren Erfüllung jeder Betrachter 
OO
am Werke festzustellen vermag, sofern er selbst 
OO
die Gesetze der Darstellung in der Kunst des 
OO
Malens 
kennt, ‒ welches „Kennen” hier ein 
OO
Erfahrenhaben bedeutet.
.Entspricht ein Werk der Malerei diesen Ge‐ 
OO
setzen 
nicht, dann ist es in keinem Falle ein 
OO
Kunstwerk, ‒ mag es auch eine sehr tüchtige 
OO
Arbeitsleistung sein, ‒ mag auch die Darstellung 
OO
im Beschauer tiefstes seelisches, aber nicht durch 
OO
Kunst bedingtes Erleben auslösen.
.Nur das gesetzmäßig vollendete 
Kunstwerk 
OO
kann das reine 
Kunsterlebnis vermitteln.
.Ein Beispiel aus der Lyrik möge das verdeut‐ 
OO
lichen.
.Es gibt selbst in der reichen Fülle der Ge‐ 
OO
dichte 
Goethes nichts Vollendeteres als die acht 
OO
Zeilen:
„Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.”
 
.Jeder Zeitungsreporter kann mit Leichtigkeit 
OO
die Situation beschreiben, die in diesem Gedicht 
OO
geschildert wird.
.Keineswegs aber wäre durch solchen Bericht 
OO
etwa der 
Inhalt dieses reifsten Werkes der Poesie 
OO
wiederzugeben.
.Sein 
wesentlicher und den 
Kunstwert des 
OO
Gedichtes bedingender „Inhalt” ist vielmehr be‐ 
OO
schlossen in der vollendeten 
Komposition der 
OO
Worte, die nur in 
dieser, immanenten Sprach‐ 
OO
gesetzen entsprechenden Folge 
die seelischen 
OO
Schwingungen auslösen, die jeder Empfindende 
OO
beim Lesen des Gedichtes erlebt.
.Nichts ist hier nur „Form”, ‒ nichts nur 
OO
„Inhalt!”
.Form und Inhalt sind 
untrennbar zu vor‐ 
OO
her nie gewesener 
Einheit verschmolzen!
.So nur ist reines 
Kunsterlebnis zu vermit‐ 
OO
teln.
.In der 
Malerei lassen sich von dem Geübten 
OO
und der Kunst Kundigen ähnliche Beispiele in 
OO
Menge finden.
.Whistlers feingespielte Farben-„Adagios” wür‐ 
OO
den auch in der besten farbenphotographischen 
OO
Wiedergabe 
ihrer Naturvorbilder niemals zu 
OO
 
finden sein, und die beste photographische Auf‐ 
OO
nahme einer Ballettprobe enthält 
nichts von den 
OO
sublimen künstlerischen Erlebnissen die 
Degas 
OO
in seinen fast nüchternen Pastellen vermittelt, 
OO
auf denen eine Bühnenecke, ein Stück Coulisse 
OO
und ein paar recht wenig „schöne” Ballerinen zu 
OO
sehen sind, alles aufgelöst in eine Symphonie so‐ 
OO
norer Farbenmassen und distinkter Linien.
.Was ein wirkliches Kunstwerk an 
Seelischem 
OO
zu geben hat, wird ja nicht durch seinen beschreib‐ 
OO
baren Schaffens-
Anlaß bestimmt.
.Man muß ein Werk der Malerei 
als solches 
OO
sehen lernen, ohne sich durch das gegenständlich 
OO
Dargestellte und 
dessen Lebenswerte beirren 
OO
zu lassen.
.Den 
wahren „Inhalt” eines Kunstwerkes muß 
OO
man 
aus seiner inneren Gesetzmäßigkeit 
OO
erfühlen, und darf nicht glauben, die dargestell‐ 
OO
ten Dinge allein machten den Inhalt aus.
.Auch die in den letzten Jahrzehnten so sehr 
OO
überschätzte „getreue Naturbeobachtung” gibt 
OO
einer Bildtafel noch keineswegs den Rang eines 
OO
Kunstwerkes.
.Wo Form und Inhalt nicht 
Eines wurden, 
OO
liegt noch kein 
Kunstwerk vor, ‒ und der 
OO
„
Inhalt” eines Werkes der 
Kunst kann immer 
OO
nur aus 
künstlerischen Werten bestehen!
 
.Erst dort, wo ein seelisches Erleben das sich OO
nur mit den Mitteln des Malers übertragen läßt, OO
seinen kunstgemäßen Ausdruck fand, darf von OO
einem Kunstwerk der Malerei gesprochen wer‐ OO
den, mag der optische Eindruck eines solchen OO
Bildes zugleich Natur-Erinnerungen wachrufen OO
oder nicht.
.Wenn auch das Verständnis der 
Kunst des 
OO
Malens, selbst bei vielen unserer Gebildeten, 
OO
noch manches zu wünschen übrig läßt, weil die 
OO
„Bildung” in diesen Tagen vornehmlich eine Bil‐ 
OO
dung des 
Denkens, des intelligiblen Vorstellens 
OO
ist, und sich noch nicht wieder bis zu einer Bil‐ 
OO
dung des 
Anschauens zu erheben vermochte, 
OO
so wird man doch noch weit eher der bewußten 
OO
und begründeten Freude an den Werken der 
OO
Malerei begegnen, als dem verstehenden und 
OO
genußfreudigen Einfühlungsvermögen vor den 
OO
Gebilden der 
Plastik.
.Es fehlt zwar unseren Großstädten nicht an 
OO
plastischen Denkmalen, und in den Wohnungen 
OO
findet sich mehr „Kleinplastik” als wünschbar 
OO
wäre, aber leider fehlt es in beiden Fällen gar 
OO
sehr am sicheren Instinkt für 
Qualität, am Sinn 
OO
für das wirklich 
Künstlerische und im Reiche 
OO
der Kunst 
Bedeutende.
.Ahnungslos füllt man seine Wohnung an mit 
OO
den übelsten Erzeugnissen fabrikmäßig herge‐ 
OO
stellter, sogenannter „Kleinkunst”, und findet 
OO
 
kaum einen Unterschied zwischen diesen künst‐ 
OO
lerisch unmöglichen Bazarwaren und den voll‐ 
OO
endeten Kleinplastiken unserer bedeutendsten 
OO
Bildhauer.
.Auf öffentlichen Plätzen stellt man erbärm‐ 
OO
liche Gliederpuppen gigantischen Formates auf, 
OO
und meint damit der Nachwelt Werke zu hinter‐ 
OO
lassen, die gewiß doch neben allem bestehen 
OO
könnten, was Griechen und Römer in ihren 
OO
besten Kunstzeiten geschaffen haben.
.Unsummen werden so im Kleinen wie im 
OO
Großen vergeudet, und gewaltige Mengen kost‐ 
OO
baren Materials werden unbrauchbar gemacht, um 
OO
plastische Dinge hervorzubringen, die der 
Kunst 
OO
des plastischen Formens so fern sind wie der Zinn‐ 
OO
soldat auf dem Pferdchen, den man in den Spiel‐ 
OO
zeugschachteln der Buben finden kann.
.Ursache aller dieser irrenden Geschäftigkeit, 
OO
die Gutes zu schaffen glaubt und dabei nur das 
OO
Miserabelste zu Tage fördert, ist 
ein absolutes 
OO
Mißverstehen der Kunst des Plastikers.
.Der plastische Sinn des Auges ist 
ohne 
OO
jede Ausbildung und es fehlt jegliche 
Sicher‐ 
OO
heit des Urteils.
.Was die meisten Nichtkünstler sich unter 
OO
einer „guten Plastik” vorstellen, ist, ‒ mit einem 
OO
Wort gesagt: ‒ 
Panoptikumskunst.
 
.Wenn der neueste Raubmörder durch den 
OO
Modelleur des Panoptikums „verewigt” werden 
OO
soll, dann schwebt dem Darsteller kein anderes 
OO
Ziel vor Augen, als die 
möglichst naturge‐ 
OO
treue Wiedergabe des Verbrechers, in recht er‐ 
OO
schreckender Vortäuschung des Lebens.
.Sind die gläsernen Augen eingesetzt, Augen‐ 
OO
brauen, Bart und Haar „recht natürlich” ein‐ 
OO
geklebt, und ist die Bemalung der Hautflächen 
OO
gut gelungen, dann kann der wackere Nachbildner 
OO
des menschlichen Scheusals befriedigt auf das 
OO
Werk blicken, denn es ist kaum mehr von „der 
OO
Natur” zu unterscheiden.
.Der 
Künstler aber, der ein plastisches 
Kunst‐ 
OO
werk schaffen will, steht 
himmelhoch über dem 
OO
Bestreben, derartige plastische „Naturähnlichkeit” 
OO
erzielen zu wollen.
.Er spricht die Sprache 
dreidimensionaler 
OO
Formen, und sein ganzes Wirken zielt einzig 
OO
daraufhin, in solchen Formen ein Werk zu ge‐ 
OO
stalten, das als 
eine Symphonie im Reiche 
OO
plastischer Formschönheit gelten kann.
.Das Werk des Plastikers, der ein wirklicher 
OO
Künstler ist, stellt 
eine in sich geschlos‐ 
OO
sene Welt dar, von der Welt 
naturgegebener 
OO
plastischer Formen streng 
gesondert durch den 
OO
künstlerischen Impuls, der hier zu einer Schöp‐ 
OO
fung reiner 
Kunstformen führte.
 
.Jede Kunst, die von den Formen der äußeren 
OO
Welt ihre Anregungen empfängt und sodann 
OO
zu Werken gelangt, die als 
Kunstwerke ange‐ 
OO
sprochen zu werden verdienen, kann als eine 
OO
Art „
Übersetzung” der Naturformen betrachtet 
OO
werden: ‒ eine Übersetzung in 
die persön‐ 
OO
liche Sprache des Künstlers, die wieder be‐ 
OO
dingt ist durch das 
Material, aus dem der 
OO
Künstler schafft.
.Es ist 
unmöglich, Naturformen sklavisch 
OO
kopieren zu wollen und dennoch ein 
Kunst‐ 
OO
werk zu schaffen.
.Kunst ist die Ausdruck gewordene 
innere 
OO
Welt eines 
Künstlers, und steht 
als eine 
OO
Welt für sich, ‒ nicht mehr den Naturfor‐ 
OO
men eingegliedert, innerhalb 
eigener Form‐ 
OO
grenzen vor dem Auge des Beschauers.
.Sucht der Beschauer in einem Kunstwerk 
OO
lediglich die schöne 
Naturform, so fehlt ihm 
OO
eben noch der entwickelte Sinn für 
Kunst als 
OO
solche.
.Er würde besser tun, das, was er sucht, gleich 
OO
in der Natur zu suchen, wo es wahrlich zu 
OO
finden ist!
.Mehr noch als beim Werke des Malers, fühlt 
OO
sich der „Laie” versucht, im 
plastischen Kunst‐ 
OO
 
werk nach der 
Naturform, statt nach der 
Kunst‐ 
OO
form zu suchen, denn während die Malerei auf 
OO
der Fläche nur die 
Anregung zu dreidimensio‐ 
OO
naler Raumvorstellung geben kann, ist im 
pla‐ 
OO
stischen Kunstwerk alles nach Höhe, Breite 
OO
und 
Tiefe gestaltet, und in 
dieser Hinsicht 
OO
der Naturform analog gebildet.
.Wenn man das Empfindungsvermögen für 
OO
plastische 
Kunst entwickeln will, muß man da‐ 
OO
her vor allem von der Suggestion loszukommen 
OO
suchen, als habe man es mit einem Gebilde aus 
OO
Naturformen zu tun, nur weil plastische 
Kunst 
OO
ebenso wie jede plastische Form der 
Natur sich 
OO
im Raume auswirkt.
.Die Formensprache des 
Plastikers muß in 
OO
der gleichen Weise erkannt und gleichsam zu 
OO
„lesen” versucht werden, wie die Sprache der 
OO
Farben und Linien in der Malerei, unbeirrt 
OO
durch den kunstfremden Anreiz zu Vergleichen 
OO
mit den entsprechenden Naturformen.
.Zu solchem Eingehen auf das 
Wesentliche 
OO
der plastischen Kunst ist die Entwicklung eines 
OO
„Sinnes” vonnöten, den ich als „
Tastsinn des 
OO
Auges” bezeichnen möchte.
.Das Auge muß lernen, alle die 
Flächen, 
OO
Wölbungen und Einbuchtungen: ‒ die 
OO
„
Buckeln und Höhlungen” des plastischen 
OO
 
Kunstwerkes empfindend abzutasten, das Gefühl 
OO
für die Gegensätze und ihren Rhythmus zu ent‐ 
OO
wickeln, die Harmonie der 
in die Tiefe gestal‐ 
OO
teten Formflächen zu erspüren, um so allmäh‐ 
OO
lich die persönliche künstlerische Sprache zu ver‐ 
OO
stehen, die dem Bildhauer allein zur Verfügung 
OO
steht, will er seine innere plastische Welt nach 
OO
außenhin darstellen.
.„
Plastik ist die Kunst der Buckeln und 
OO
Höhlungen”, ‒ sagt 
Rodin, und dieses Wort 
OO
eines in der Neuzeit, dem künstlerischen Tempe‐ 
OO
rament nach, jeden Vergleich ausschließenden 
OO
plastischen Bildners könnte schon 
allein genü‐ 
OO
gen, auch den kunstfremden „Laien” zum Ver‐ 
OO
ständnis und zum einfühlenden 
Erleben plasti‐ 
OO
scher Kunst hinzuleiten...
.Er braucht ja nur ein plastisches Werk darauf 
OO
hin zu sondieren, ob diese „Buckeln und Höh‐ 
OO
lungen” 
eine kraftvolle, 
eindringliche und 
OO
innerhalb des Werkes 
einheitliche Formen‐ 
OO
sprache ergeben, ‒ ob sie 
seelischem Empfin‐ 
OO
den Ausdruck schaffen, oder ob sie, leer und 
OO
glatt, nur eine konventionelle Scheinwiedergabe 
OO
der Natur erstreben, statt eine in sich geschlossene 
OO
Welt zu gestalten, der 
Natur nur 
Schaffens‐ 
OO
anregung war.
.Während aber 
Rodin sich eine fast wie un‐ 
OO
gebändigt erscheinende, nur 
seinem Bildner‐ 
OO
 
willen 
allein gemäße, persönlich eigene, leben‐ 
OO
dige Sprache der Formen geschaffen hatte, um 
OO
seiner seelischen Bewegung Ausdruck zu geben, 
OO
‒ eine Sprache die allen zum leeren Pathos 
OO
wurde, die sie zu Lebzeiten oder nach dem Tode 
OO
des großen Meisters 
nachzuahmen suchten, ‒ 
OO
erstand in Deutschland eine Bildhauerschule, 
OO
angeregt durch Erkenntnisse, die der wohl be‐ 
OO
deutendste unter den deutschen Plastikern des 
OO
neunzehnten Jahrhunderts: 
Adolf von Hilde‐ 
OO
brand, auf seine Schüler übertrug, und auch 
OO
in einem kleinen Werkchen: „
Das Problem 
OO
der Form” ausführlich darlegte.
.Die Erkenntnisse Hildebrands waren Früchte 
OO
eines intensiven und von hohem Kunstverstand 
OO
geleiteten Studiums der Alten: ‒ der plastischen 
OO
Werke der 
Antike und der 
Renaissance.
.Die kleine Schrift: „
Das Problem der 
OO
Form” versucht darzulegen, daß die Schöpfer 
OO
der bedeutendsten Werke plastischer Kunst, deren 
OO
sich die Welt zu erfreuen hatte, stets ihre For‐ 
OO
mensprache zu bändigen strebten durch einen 
OO
Willen zu höherer Einheitsform, indem sie ihren 
OO
Werken eine ideale, nur zu ahnende 
stereo‐ 
OO
metrische Form zu Grunde legten.
.„Malerisch” gedachte Plastik lehnte Hilde‐ 
OO
brand ab, und vor allem bekämpfte er die „Rund‐ 
OO
plastik” ‒ das plastische Gebilde 
das von allen 
OO
 
Seiten eine gleich gute Ansicht bilden solle, 
OO
‒ und erbrachte auf seine Art den Beweis der 
OO
künstlerischen Unerfüllbarkeit solcher Forderung. 
OO
.Seiner Auffassung nach soll ein gutes pla‐ 
OO
stisches Kunstwerk von 
einer Ansicht aus sich 
OO
entwickeln, und er machte das deutlich durch 
OO
den schon von 
Michelangelo gebrauchten Ver‐ 
OO
gleich, daß das Werk in ähnlicher Weise aus dem 
OO
Steinblock erstehen müsse, wie eine Figur, die 
OO
man in einen gefüllten Wassertrog legt, beim 
OO
langsamen Abfließenlassen des Wassers mehr 
OO
und mehr zum Vorschein kommt, wobei hier 
OO
das allmählich verschwindende Wasser dem fort‐ 
OO
gemeißelten Stein zu vergleichen wäre.
.Das fertige plastische Kunstwerk soll dann, 
OO
nach Hildebrands Forderung, in den plastischen 
OO
„Ausladungen”: seinen äußersten, in den Raum 
OO
hinausstrebenden Punkten, gleichsam wieder einen 
OO
ideellen Block darstellen. Es soll keine Form 
OO
des Werkes dem Beschauer 
entgegenspringen, 
OO
sondern der Blick soll stets von den erhöhtesten, 
OO
äußersten Punkten 
in die Tiefen der Gesamt‐ 
OO
form geführt werden.
.Daß dieser Auffassung der künstlerischen, 
OO
plastischen Form eine hohe Weisheit innewohnt, 
OO
ergibt sich schon daraus, daß auch Plastik 
eine 
OO
Kunst fürs Auge ist, und daß das Auge 
nur 
OO
dort eine wohltuende Befriedigung erfährt, wo 
OO
 
die ihm dargebotene Form sich 
mit einem 
OO
Blick im ganzen erfassen läßt, bevor die Glie‐ 
OO
derung der einzelnen Teile zur Empfindung 
OO
kommt.
.Alles Doktrinäre aber ist im Reiche der bil‐ 
OO
denden Kunst vom Übel, und so darf man denn 
OO
auch gewiß nicht glauben, seit Hildebrand sei 
OO
das Problem der künstlerischen plastischen Form 
OO
nun ein- für allemal gelöst.
.Es liegt hier, trotz allen Hinweisen Hilde‐ 
OO
brands auf die große plastische Kunst der Alten, 
OO
doch nur eine 
individuell gültige Lösung vor, 
OO
und ihre blinde Übernahme durch ganz anders 
OO
geartete Naturen hat leider Bildwerk genug ent‐ 
OO
stehen lassen, das hinter formaler „
Geschlos‐ 
OO
senheit” die ureigene Begabung des jeweiligen 
OO
Schöpfers in trister Bindung hält. Es führt lei‐ 
OO
der nicht immer zu künstlerischer Entfaltung, 
OO
wenn die Schüler eines Meisters mit dessen ur‐ 
OO
eigenen Kunstmitteln auszukommen trachten.
.Der 
Suchende auf dem Wege in das Reich 
OO
der bildenden Kunst, der erst 
sehen lernen 
OO
will, wird sich aber 
noch mehr wie der Künst‐ 
OO
ler davor zu hüten haben, irgend einer Kunst‐ 
OO
Theorie zu verfallen, sei sie auch verstandes‐ 
OO
mäßig überaus einleuchtend und aufs beste be‐ 
OO
gründet.
 
.Die Selbsterziehung zum plastischen Sehen 
OO
im künstlerischen Sinne ist leichter als mancher 
OO
ahnen mag, der jetzt noch mit einer gewissen 
OO
Scheu einen Blick auf plastische Kunstwerke 
OO
wirft, im Gefühl der inneren Unsicherheit seines 
OO
Urteils, und dem Plastik ‒ wie er meint ‒ 
OO
„nichts zu sagen” hat, weil er das Werk des 
OO
Plastikers noch nicht für sich zum klingenden 
OO
„Sprechen” bringen kann, wie allenfalls ein Werk 
OO
der 
Malerei, für dessen Farben- und Formen‐ 
OO
sprache auf der ebenen Fläche ihn vielleicht 
OO
schon eine gewisse „Gewöhnung” des Auges eini‐ 
OO
germaßen erzogen hat.
.Aber auch das Erschließen des kunstwertbe‐ 
OO
stimmenden Inhalts von Werken der 
Plastik 
OO
verlangt vorerst reichliche Seh-Übungen und hin‐ 
OO
gebendes Versenken im Betrachten guter plasti‐ 
OO
scher Kunst.
.Man wird sich entschließen müssen, auch den 
OO
Museen 
plastischer Bildwerke das gleiche In‐ 
OO
teresse entgegenzubringen, wie den 
Bildergale‐ 
OO
rien, und man wird dort wie hier gut daran 
OO
tun, wenn man endlich die Betrachtung des 
OO
Dargestellten ablöst durch Vertiefung in 
die 
OO
künstlerische Art der Darstellung.
 
.In der Gebrauchssprache des Alltags gibt es 
OO
Worte und Wortverbindungen, die allgemeines 
OO
Übereinkommen ruhig gelten läßt, auch wenn 
OO
vielleicht zu fragen wäre, ob sie zu Recht be‐ 
OO
stehen.
.Ein solches Wortklischee soll absichtlich den 
OO
Titel dieser kleinen Betrachtung bilden, weil hier 
OO
gut sein wird, einmal zu untersuchen, ob die Be‐ 
OO
zeichnung aller Nichtkünstler als „Laien” sich 
OO
unter allen Umständen rechtfertigen läßt, oder 
OO
ob es auch künstlerisch begabte Menschen gibt, 
OO
die 
nicht ausübende Künstler und dennoch 
OO
keine „Laien” sind.
.Den etymologisch bekannten Ursprung des 
OO
Wortes „Laie”, allwo es 
einen Menschen aus 
OO
dem Volke meint, nur nebenher streifend, will 
OO
ich dieses Wort hier vielmehr in seiner 
heutigen, 
OO
landläufigen Bedeutung betrachtet wissen.
.Da bezeichnet man denn kurzweg jeden Men‐ 
OO
schen, der in irgend einem, gewisse Kenntnisse ver‐ 
OO
langenden Bereich menschlicher Tätigkeit 
nicht 
OO
fachkundig ist, als einen „Laien” auf diesem 
OO
 
Gebiet, ‒ so, wie nach alter kirchlicher Übung, 
OO
jeder Gläubige als „Laie” gilt, gegenüber seinen, 
OO
der Gottesgelahrtheit kundigen Glaubenslehrern. 
OO
.Sofern es sich demnach im Reich der bilden‐ 
OO
den Kunst um 
die schöpferische Kraft zur 
OO
Zeugung künstlerischer Gestaltungen han‐ 
OO
delt, ‒ ja selbst dort, wo es sich nur um das 
OO
dem Künstler geläufige 
Handwerk dreht, ‒ läßt 
OO
sich die Unterscheidung zwischen Künstlern und 
OO
Laien gewiß mit guten Gründen rechtfertigen.
.Anders aber steht es, wenn wir vom 
künst‐ 
OO
lerischen Fühlen sprechen, für das zwar der 
OO
Künstler von Natur aus mehr Eignung in sich 
OO
trägt als andere Menschen, und dem er allein nur, 
OO
kraft seiner Begabung, 
Ausdruck zu schaffen 
OO
vermag, ‒ das aber durchaus nicht etwa 
nur ihm 
OO
allein vorbehalten ist.
.Wäre nur dem Künstler 
allein die Möglich‐ 
OO
keit erschlossen, 
künstlerisch fühlen zu kön‐ 
OO
nen, dann würde er sich vergeblich unter Nicht‐ 
OO
künstlern nach Menschen umsehen, die imstande 
OO
wären, sein Werk empfindend in sich aufzunehmen. 
OO
.Es gäbe dann wirklich nur eine 
Kunst für 
OO
Künstler, und alle künstlerische Schöpfung wäre 
OO
nur für die künstlerisch Schöpferischen 
OO
der Mit- und Nachwelt da.
 
.Tatsächlich liegt die Zeit ja noch nicht lange 
OO
hinter uns, in der man resigniert auf das Kunst‐ 
OO
interesse der „Laien” verzichten zu müssen meinte, 
OO
weil 
nur der Künstler Kunst erfassen könne. 
OO
.War solche Auffassung auch töricht, so lag 
OO
ihr doch die Erkenntnis einer 
Wahrheit zu‐ 
OO
grunde: ‒ der Wahrheit, daß Kunst nur dem 
OO
künstlerisch empfindenden Menschen faßbar 
OO
werden kann.
.In der Welt der 
Musik ist man sich längst 
OO
über diese Wahrheit klar.
.Man spricht da von „musikalischen” und „un‐ 
OO
musikalischen” Menschen, und man weiß sehr 
OO
genau, was auch den Hochbegabten unter den Mu‐ 
OO
sikalischen immer noch vom berufenen 
Schöpfe‐ 
OO
rischen: ‒ vom 
Komponisten, ebenso aber 
OO
auch vom nur 
reproduzierenden, zur 
konge‐ 
OO
nialen Einfühlung in Schöpferisches berufenen 
OO
Künstler scheidet.
.Ja, man darf sagen: ‒ je begabter der mu‐ 
OO
sikalische Mensch ist, desto weniger wird er in 
OO
Gefahr kommen, sich selbst für einen „Künstler” 
OO
zu halten, wenn er es nicht ist.
.Er wird kaum in Versuchung geraten, selbst 
OO
komponieren zu wollen, und wenn er wirklich 
OO
zu den Ausnahmen gehört, die auch da einmal 
OO
 
einen Versuch wagen zu dürfen glauben, dann 
OO
wird es ihm doch gewiß nicht im Traume ein‐ 
OO
fallen, zu erwarten, daß seine Kompositionsver‐ 
OO
suche nun in den großen Konzerten aufgeführt 
OO
werden müßten. Ebensowenig wird er Klavier‐ 
OO
konzerte geben wollen, auch wenn er imstande 
OO
ist, recht Schwieriges vorzüglich vom Blatt zu 
OO
spielen.
.Ein „musikalischer” Mensch ist innerhalb des 
OO
Bereiches der Musik keineswegs „Laie”, und 
OO
empfindet sich auch gewiß nicht als solchen.
.Der „Musikalische” ist der ideale 
Verstehende 
OO
für das schöpferische Werk des Komponisten, ‒ 
OO
ist befähigt und genügend künstlerisch gebildet, 
OO
alle Werte und Schönheiten des Werkes empfin‐ 
OO
dend in sich aufzunehmen.
.Auch die 
bildende Kunst hat solche ideale 
OO
Verstehende sehr nötig.
.Auch hier braucht der Schaffende die 
Lie‐ 
OO
benden: ‒ Einfühlungsfreudige, Einfühlungs‐ 
OO
fähige, die keineswegs „Laien” sind, sich aber 
OO
ebensowenig für „Künstler” halten.
.Es handelt sich nur um durch und durch künst‐ 
OO
lerisch gebildete, feinempfindende Menschen, ‒ 
OO
und wie die „Musikalischen” Begabte des 
Gehörs 
OO
 
sind, so braucht die bildende Kunst Begabte des 
OO
Auges!
.Leider haben wir im Sprachschatz der 
bilden‐ 
OO
den Kunst kein so sicher definierendes 
Wort, 
OO
wie es der Tonkunst zu Gebote steht, die ihre 
OO
begabten und künstlerisch gebildeten Empfinden‐ 
OO
den „
musikalisch” nennt.
.Der Mangel eines gleichwertigen Wortes im 
OO
Bereich der 
bildenden Kunst trägt sehr viel 
OO
Schuld daran, daß hier die entsprechende breite 
OO
Schicht künstlerisch erzogener Verstehender 
fehlt. 
OO
.Aber es fehlen nirgends die Menschen, die 
OO
einen solchen Kreis Kunstkundiger auch für die 
OO
bildende Kunst ergeben könnten, nur ‒ 
ver‐ 
OO
stehen sie sich und ihre Begabung falsch! 
OO
.Sie mißverstehen ihre Begabung zu künst‐ 
OO
lerischem 
Empfinden kurzerhand dahin, daß sie 
OO
wohl zum künstlerischen 
Schaffen berufen seien, 
OO
und geben diesem fatalen Mißverständnis gerne 
OO
nach, bis sie jeden Maßstab sich selbst gegenüber 
OO
verlieren und ihr belangloses Tun dann eitelfroh 
OO
dem Wirken wirklich schöpferisch Begnadeter 
OO
gleicherachten.
.Die Skala dieser „Künstlerischen” die sich 
OO
dem Irrtum ergeben, Berufene des 
Schaffens 
OO
zu sein, reicht sehr hoch hinauf.
 
.Aus dem Mißverstehen ihrer selbst heraus 
OO
haben viele sich verleiten lassen, Akademien und 
OO
Kunstschulen zu besuchen, haben dort mancher‐ 
OO
lei gelernt, und halten sich nun allen Ernstes für 
OO
schaffende „Künstler”, ‒ werden auch wohl zu‐ 
OO
weilen von 
wirklichen Künstlern, ohne sonder‐ 
OO
liche Neigung zu kritischer Wertung, gutmütig 
OO
als „Kollegen” betrachtet, und fühlen sich dann 
OO
sehr ungerecht beurteilt, wenn ein Kunstkundiger 
OO
in ihren Werken 
den Mangel an schöpferi‐ 
OO
scher Kraft erkennt, auch wenn das Erlernbare 
OO
gut bewältigt ist.
.Nun ist es freilich sehr schwer für die solcherart 
OO
Selbstbetörten geworden, noch zu einer erbar‐ 
OO
mungslosen 
Klarheit über sich selbst zu kommen, 
OO
denn aus dem anfänglichen Mißverstehen einer 
OO
Begabung resultierte ein Alltagsberuf, der auf‐ 
OO
gegeben werden müßte, würde erkannt, daß er 
OO
nur einer Selbsttäuschung zu verdanken ist, daß 
OO
die eigentliche 
Berufung zum künstlerischen 
OO
Schaffen 
fehlt.
.Zu Anfang nur läßt sich hier das Verderben 
OO
einer Erdenlaufbahn noch 
verhüten, wenn der 
OO
künstlerisch Empfindende rechtzeitig erkennt, daß 
OO
ein kunstgebildeter, begabter 
Aufnehmender 
OO
für die Kunst 
wahrhaft bedeutsam werden 
OO
kann, während das Dasein eines unschöpferischen 
OO
Malers oder Bildhauers weder ihn selbst beglücken 
OO
 
noch der Kunst in irgend einer Weise Förderung 
OO
bringen wird.
.Das Musikverständnis hätte nie die relative 
OO
Höhe erreicht, auf der wir es heute innerhalb 
OO
weiter Gesellschaftskreise antreffen, ohne die klare 
OO
Einsicht der „Musikalischen” in ihre Befähigung 
OO
und deren Grenzen.
.Bescheiden, aber dennoch seiner Begabung 
OO
wohlbewußt und froh, erfreut sich der „Musika‐ 
OO
lische” seines Einfühlungsvermögens an den Wer‐ 
OO
ken der wirklich zum Schaffen Berufenen, und 
OO
er wendet sein technisches Können lediglich an, 
OO
um solche Werke 
zu studieren und seinem Emp‐ 
OO
finden näher bringen zu können.
.Vergleicht man die „Musikalischen”, wie es 
OO
hier geschieht, mit den zur Empfindung bildender 
OO
Kunst Begabten, so läßt sich wohl sagen, daß 
OO
unter den für 
Musik Empfindungsfähigen, weit 
OO
mehr 
Selbstkritik, weit mehr 
Ehrfurcht vor 
OO
der Kunst zu finden ist.
.Tausende von Konzerten würden nicht aus‐ 
OO
reichen im Jahr, wenn alle „Musikalischen” die 
OO
auf ihrem Instrument gleichviel, wenn nicht mehr 
OO
leisten, wie die Überzahl der Füller moderner 
OO
Kunstausstellungen als Maler oder Plastiker, sich 
OO
ebenso vor dem Publikum produzieren wollten. . . 
OO
 
.Es ist wahrlich an der Zeit, daß auch die für OO
das Empfinden der bildenden Kunst Begabten, OO
aber nicht zu schöpferischem Künstlertum Be‐ OO
rufenen, sich ihres Eigenwertes als Kunst-Lie‐ OO
bende bewußt werden, die ganz gewiß nicht mehr OO
als „Laien” zu bezeichnen sind.
.Der Besucher periodischer Ausstellungen, 
OO
wie sie von den verschiedenen Künstlerkorpo‐ 
OO
rationen von Zeit zu Zeit veranstaltet werden, 
OO
sieht mit mehr oder weniger Freude alle die zur 
OO
Beschauung dargebotenen Werke, er bewundert, 
OO
oder äußert sein Mißvergnügen, aber er denkt 
OO
kaum an die vielen Enttäuschten, die ihre Werke 
OO
zur gleichen Schau eingesandt hatten, deren Ar‐ 
OO
beiten aber von der ihres undankbaren Amtes 
OO
waltenden Jury 
abgelehnt werden mußten. (Wie 
OO
bitter dem auswählenden Juror die Ablehnung 
OO
des notorisch Bedeutungslosen zuweilen werden 
OO
kann, da er doch die Enttäuschung voraussieht, 
OO
die er damit schaffen muß, weiß ich aus genü‐ 
OO
gender eigener Erfahrung in dieser verantwort‐ 
OO
lichen Tätigkeit.)
.Noch weniger kommt dem nicht mit dem 
OO
Werden einer Kunstausstellung Vertrauten zu 
OO
Bewußtsein, mit welchem Unbehagen so man‐ 
OO
cher der Künstler, deren Werke an den Wän‐ 
OO
den hängen, die von der Jury getroffene 
Aus‐ 
OO
wahl konstatiert, indem er zwar eine oder die 
OO
andere seiner Arbeiten ausgestellt findet, aber 
OO
gerade 
das Werk 
vermißt, dessen Annahme ihm 
OO
besonders erwünscht gewesen wäre.
 
.Die Verbitterung über solche gänzliche oder 
OO
teilweise Ablehnung ist nur zu begreiflich.
.Die Künstler selbst hielten ja doch ihre ein‐ 
OO
gesandten Werke sicherlich für wertvoll genug, 
OO
um sie mit Ehren öffentlich zeigen zu können, 
OO
und mancher hatte vielleicht hohe Hoffnungen 
OO
gehegt, seines Erfolges in der Öffentlichkeit zum 
OO
voraus schon allzusicher.
.Man darf es den Zurückgewiesenen kaum ver‐ 
OO
argen, wenn sie sich außerstande sehen, die von 
OO
der Jury getroffene Auswahl auf 
objektive 
OO
Gründe zurückzuführen, ‒ wenn sie statt dessen 
OO
persönliche Motive, oder 
Gegnerschaft ge‐ 
OO
genüber ihrer eigenen Kunstrichtung als wahre 
OO
Ursache der Ablehnung zu erkennen glauben. 
OO
.Begreiflicher Ärger über die vermeintliche un‐ 
OO
gerechtfertigte Kränkung tobt sich so gegen die 
OO
Jury aus und sieht in ihr nur ein böses Hemm‐ 
OO
nis auf dem Wege zum Erfolg.
.Nun gibt es zwar gewiß Kunstausstellungen, 
OO
bei denen jeweils 
im voraus feststeht, wessen 
OO
Werke ausgestellt werden sollen, so daß auch das 
OO
beste Bild, die beste Plastik eines 
nicht zum 
OO
Kreise der vorbestimmten Aussteller gehörigen 
OO
Künstlers schonungslos refüsiert wird.
.Aber von derartiger Ausstellungsmache darf 
OO
man wohl im allgemeinen absehen, und in dieser 
OO
 
Abhandlung hier soll uns nur die ebenso ver‐ 
OO
antwortungsvolle wie undankbare Aufgabe einer 
OO
gewissenhaften und 
nicht durch kunstferne Ver‐ 
OO
pflichtungen gebundenen Jury beschäftigen.
.Ein solches Kollegium kunstkundiger Beur‐ 
OO
teiler wird nie ein anderes Ziel seiner Tätigkeit 
OO
kennen, als 
die Förderung wirklicher Kunst, 
OO
und bei Verfolgung dieses Zieles ergibt sich na‐ 
OO
türlich die 
Pflicht, alle Scheinkunst, alles nur 
OO
halbgekonnte oder sonstwie Wertlose von den 
OO
Ausstellungen fernzuhalten.
.Soll die Einrichtung einer Jury bei Kunst‐ 
OO
ausstellungen überhaupt 
Daseinsberechti‐ 
OO
gung haben, dann müssen die Juroren 
kunst‐ 
OO
erzieherisch wirken wollen.
.Um so zu wirken, müssen sie alles ablehnen, 
OO
was sich als „Kunst aus zweiter Hand” heraus‐ 
OO
stellt, was die 
Ursprünglichkeit vermissen 
OO
läßt, die das Werk eines echten Künstlers unter 
OO
allen Umständen von der Mache unschöpferischer 
OO
„geschickter Maler” oder „virtuoser Modelleure” 
OO
unterscheidet.
.Eine solche Unterscheidung ist aber für das 
OO
geübte Auge so 
sicher zu treffen, wie Schwarz 
OO
von Weiß zu unterscheiden ist!
.Die 
Scheinkünstler werden jedoch immer 
OO
 
die im Reiche der Kunst noch 
Unkundigen 
OO
auf ihrer Seite haben.
.Beide Kategorien glauben in ihrer Ahnungs‐ 
OO
losigkeit, daß eine gewisse angelernte Fertigkeit 
OO
im Technischen und ein leidlicher Farbenge‐ 
OO
schmack ausreichend seien, um ein gutes Bild zu 
OO
malen, oder daß ein anatomisch richtig model‐ 
OO
lierter Akt schon ein Kunstwerk der Plastik sein 
OO
müsse, ‒ von dem Heer der Reißbrett-„Archi‐ 
OO
tekten” nicht zu reden, die jedes originale Werk 
OO
wirklicher Baukünstler für vogelfrei halten, nur 
OO
dazu entstanden, um schwachen Nachempfindern 
OO
als Formenvorlage zu dienen.
.Bilder, die übermalten Photographien zum 
OO
Verwechseln ähnlich sehen, oder aller künstle‐ 
OO
rischen Formgedanken bare Plastik im Stil der 
OO
Zuckerbäckerfiguren werden für „Kunst” gehal‐ 
OO
ten, aber man steht vor Rätseln, wenn sich irgend‐ 
OO
wo wirkliche 
Ursprünglichkeit, wirkliches 
OO
schöpferisches Künstlertum offenbart.
.Nur diese echte 
Ursprünglichkeit aber, 
OO
nur 
das künstlerische Bekenntnis der Seele, 
OO
gehört in eine Kunstausstellung, die mehr sein 
OO
will als ein Verkaufsbazar.
.Erzieherisch kann eine Ausstellung von Wer‐ 
OO
ken der bildenden Kunst nur dann wirken, wenn 
OO
den im Reiche der Kunst noch Unkundigen Ge‐ 
OO
legenheit geboten wird, Auge und Empfindungs‐ 
OO
 
vermögen an Schöpfungen zu schulen, die sichere 
OO
Beweise dafür sind, daß die Urheber 
keine an‐ 
OO
deren Beweggründe zum Schaffen kannten, als 
OO
den Gehorsam gegenüber dem „
Daimonion” in 
OO
ihrer Seele.
.Wer das nicht in sich trägt, der weiß natürlich 
OO
auch nicht, von was da gesprochen wird. Oder: er 
OO
hält gar seine Freude an seiner Geschicklichkeit 
OO
beim Hantieren mit Pinsel und Farbe, mit Ra‐ 
OO
diernadel und Ätzwasser, mit Modellierholz und 
OO
Tonerde, für den „Gott” in seiner Brust.
.Wer aber nur malt, zeichnet, radiert oder 
OO
modelliert, weil er es nun einmal leidlich zu‐ 
OO
stande zu bringen versteht, dessen Arbeiten ge‐ 
OO
hören gewiß nicht in eine ernst zu nehmende 
OO
Kunstausstellung.
.Derartige Leute sind zahlreich wie Butter‐ 
OO
blumen, aber man braucht in einer Ausstellung 
OO
die Wände viel zu nötig um wirkliche 
Kunst, 
OO
um das 
Erlesene und 
Seltene, oder doch das 
OO
zu respektierende 
Ringen nach höchsten Werten 
OO
vor Augen zu stellen, als daß man verantworten 
OO
könnte, bloße 
Geschicklichkeitsproben dort 
OO
zu zeigen.
.Es mag im Einzelfalle recht traurig sein, wenn 
OO
ein Mensch, der nicht 
den Beruf zum Künstler 
OO
empfing, sich mit dem 
Material und 
Werkzeug 
OO
des Künstlers 
sein Brot verdienen muß, und 
OO
 
dann die herbe Enttäuschung der Ablehnung 
OO
seiner Arbeiten in den Kunstausstellungen er‐ 
OO
fährt, in denen er die Anerkennung als „Künst‐ 
OO
ler” zu erlangen hoffte.
.Aber es ist nicht gleichgültig, 
womit man 
OO
sein Brot verdient, und wenn man es durch 
OO
Täuschung seiner Mitmenschen zu erwerben 
OO
sucht, so ist das ethisch 
unbedingt verwerflich. 
OO
.Jeder, der ein Bild an seine Wand hängt 
OO
oder eine Kleinplastik in seiner Wohnung auf‐ 
OO
stellt, möchte in diesem Besitz ein 
Kunstwerk 
OO
sein eigen nennen, auch wenn er 
nichts von 
OO
der Sache versteht, und irgend eine kunstleere 
OO
Fleißarbeit für „Kunst” 
hält.
.Dem Publikum zu zeigen, was 
wirkliche 
OO
Künstler-Tat 
ist, dem Unkundigen im Reiche 
OO
der Kunst 
die Augen zu öffnen, damit er 
OO
Kunst von Mache 
unterscheiden lerne, ‒ dazu 
OO
sind Kunstausstellungen berufen, und wenn sie 
OO
daneben den 
Verkauf der ausgestellten Werke 
OO
vermitteln, so schaffen sie zugleich die 
mate‐ 
OO
rielle Basis für die Erhaltung echten künstle‐ 
OO
rischen Schaffens.
.Eine 
Jury wird ihr Amt nur dann gerecht 
OO
verwalten, wenn sie in unerbittlich strenger Sie‐ 
OO
bung von der ihrer Sorge anvertrauten Ausstel‐ 
OO
lung alles fernhält, was nicht die Weihe echter 
OO
Künstlerschaft sichtbarlich dokumentiert.
 
.Es soll gewiß nicht bestritten werden, daß 
OO
einem Künstler auch von einer nach gerechter 
OO
Wägung strebenden Jury aus menschlich versteh‐ 
OO
baren Gründen irgendwelches 
Unrecht angetan 
OO
werden kann, aber solches Unrecht geschieht viel 
OO
seltener als die Halb- und Scheinkünstler meinen, 
OO
und ist es wirklich einmal geschehen, so läßt die 
OO
Korrektur des Fehlurteils gewöhnlich kaum lange 
OO
auf sich warten.
.Weit bedenklicher wirkt sich 
die allzuweit‐ 
OO
herzige Liberalität einer Jury aus, was so 
OO
manche Kunstausstellung mit drastischer Deut‐ 
OO
lichkeit zeigt, ‒ besonders dort, wo die 
Masse 
OO
der Darbietungen schon den erzieherischen Wert 
OO
der Veranstaltung in Frage stellt.
.So unabweisbar auch die Pflicht einer verant‐ 
OO
wortungsbewußten Jury besteht, 
jede Kunst‐ 
OO
richtung und 
jede persönliche Eigenart zu för‐ 
OO
dern, sobald das zu beurteilende Werk 
schöpfe‐ 
OO
rische Qualitäten aufweist, so sehr müssen die 
OO
für eine Kunstausstellung Verantwortlichen sich 
OO
davor hüten, aus Gründen, die mit der Kunst 
OO
nichts zu tun haben, Arbeiten mit aufzunehmen, 
OO
wie sie auch jede „juryfreie” Ausstellung in 
OO
Masse, und 
neben dem in ihr zu findenden 
OO
Echten, zeigt, weil sie da, wohl oder übel, ge‐ 
OO
zeigt werden 
müssen.
.Wie der 
Künstler nur im Vertrauen auf die 
OO
 
Urteilssicherheit einer Jury ihr sein Werk 
OO
vorlegen kann, so muß auch das Publikum sicher 
OO
sein, daß Werke, die eine Künstler-Jury passierten, 
OO
wahrhafte 
Kunstwerke sind, und wert, erwor‐ 
OO
ben zu werden.
.Ich weiß sehr wohl, weshalb ich einer weit‐ 
OO
aus ernsteren Auffassung des Jurorenamtes bei 
OO
der Vorbereitung von Kunstausstellungen das 
OO
Wort rede, umsomehr, als ich ja ausschließlich 
OO
für Andere spreche.
.Ohne hier irgend einer Künstlerkorporation 
OO
oder Ausstellungsleitung zu nahe zu treten, und 
OO
ohne damit ein Geheimnis preiszugeben, glaube ich 
OO
doch an die vielen schwächlichen Ausstellungs‐ 
OO
stücke erinnern zu müssen, von denen jeder mit 
OO
den Verhältnissen Vertraute weiß, daß diese Bil‐ 
OO
der und Plastiken nur darum in eine jurierte 
OO
Kunstausstellung gelangten, weil der Verfertiger 
OO
ein Schützling oder Freund eines der amtierenden 
OO
Juroren war, der wieder seinerseits die Stimmen 
OO
seiner Mitjuroren nur erlangte, weil die seine 
OO
bei der Beurteilung eingesandter Werke der 
OO
Freunde und Schützlinge 
anderer Juroren ge‐ 
OO
braucht wurde.
.Mit 
solchen Gepflogenheiten sollte, wo im‐ 
OO
mer sie noch bestehen, im Reich der Kunst 
end‐ 
OO
gültig aufgeräumt werden, wenn jurierte Aus‐ 
OO
stellungen noch daseinsberechtigt bleiben wollen. 
OO
 
.Unter den Besuchern einer modernen Kunst‐ 
OO
Ausstellung kann man jeweilen eine ganz beson‐ 
OO
dere Kategorie herausfinden, die meist schon zu 
OO
einem gewissen künstlerischen Empfinden gelangt 
OO
ist aber nun dunkel zu fühlen glaubt, daß ein 
OO
völliges Erfassen eines Kunstwerkes auch ein 
OO
genaues Wissen um seinen 
Werdeprozeß in sich 
OO
schließen müsse. Man fängt dann an, Belehrung 
OO
über das 
Technische zu suchen, liest Bücher 
OO
über die Technik der Malerei und der graphischen 
OO
Künste, ist schließlich beglückt, wenn man her‐ 
OO
ausfinden kann, ob ein Bild in Öl- oder Tempera‐ 
OO
farben gemalt ist, ob es sich bei einer Radierung 
OO
um eine Kaltnadelarbeit oder ein Aquatinta-Blatt 
OO
handelt, und bleibt zuletzt dennoch wieder un‐ 
OO
befriedigt, weil man fühlt: ‒ es fehlt da 
immer 
OO
noch etwas, das man 
nicht aus Büchern lernen 
OO
kann und das einem auch die Künstler, wenn 
OO
man sie fragt, niemals so richtig erklären können. 
OO
„Man müßte halt öfters Gelegenheit haben, dabei 
OO
zuzusehen, wie so ein Werk entsteht!”
.Aber auch dieses 
Zusehen würde den Un‐ 
OO
befriedigten nicht weiter bringen, denn was er 
OO
 
eigentlich 
sucht, ist gar nicht das handwerklich 
OO
Technische an sich, sondern etwas, das 
hinter 
OO
diesem Handwerk steht, und das sich seiner nur 
OO
bedient, um sich Ausdruck zu verschaffen. Er 
OO
sucht den 
Geist der Technik im Werke und 
OO
meint ihn zu finden, wenn er über das Hand‐ 
OO
werkliche Bescheid wüßte.
.In der bildenden Kunst ist aber Form 
OO
und Inhalt völlig identisch, und jeder etwa 
OO
vom Beschauer festzustellende, 
nicht in der Form 
OO
beschlossene „Inhalt” eines Kunstwerkes ist nur 
OO
Zugabe, hat mit dem eigentlichen 
Kunst-
Inhalt 
OO
nichts zu tun! Die 
Form des Werkes bedingt 
OO
seine 
Technik, denn alles Technische an einem 
OO
Kunstwerk ist nichts weiter, als 
Gestaltung 
OO
seiner Form, mithin: Aussprache seines Inhalts. 
OO
.Es kann den Beschauer auf keinen Fall zu 
OO
einem tieferen Erfassen führen, wenn er auch 
OO
noch so genau Bescheid weiß über die handwerk‐ 
OO
lich technischen Bedingungen, die der Künstler 
OO
bei Gestaltung der Form zu beachten hatte, da‐ 
OO
gegen wird jeder Beschauer 
erst dann zu einem 
OO
eigentlichen 
Kunstgenuß kommen, wenn er von 
OO
allem 
gegenständlich faßbaren „Inhalt” 
ab‐ 
OO
sieht und den 
Aufbau der Form, wie ihr 
in‐ 
OO
neres Leben, zu ergründen sucht.
 
.Das ist es, was jene vorhin geschilderten Aus‐ 
OO
stellungsbesucher dunkel fühlen, wenn sie meinen, 
OO
ein Verständnis der „
Technik” könne ihnen das 
OO
Kunstwerk näher bringen! Sie können nur noch 
OO
von dem 
begrifflich faßbaren „Inhalt” der 
OO
Kunstwerke nicht los und wissen nicht, daß sie 
OO
mit ihrer Frage nach technischem Wissen ‒ eigent‐ 
OO
lich nur nach dem einzig wertgebenden 
Kunst‐ 
OO
Inhalt suchen. Es äußert sich in ihnen ein 
ele‐ 
OO
mentares Kunstgefühl, das auch durch den 
OO
schönsten 
gegenständlichen Nebeninhalt eines 
OO
Kunstwerkes niemals befriedigt werden kann. So 
OO
sehr auch dieser äußerlich erfaßbare 
Nebenin‐ 
OO
halt die Seele, ‒ wie etwa bei den großen Mei‐ 
OO
sterwerken der Alten, ‒ zu 
ergreifen, zu 
OO
erheben vermag, so wird doch der Beschauer, 
OO
solange er noch nicht bis zum 
Geheimnis der 
OO
Form vorgedrungen ist, das Gefühl nicht los 
OO
werden, daß ihm zur 
völligen Ergründung des 
OO
Werkes doch noch 
etwas fehle, und dieses Ge‐ 
OO
fühl täuscht ihn nicht, nur täuscht er sich selbst, 
OO
wenn er glaubt, das, was ihm fehlt, sei das Ver‐ 
OO
ständnis für die „Technik”.
.Ihm fehlt nichts weiter, als die Übung: 
For‐ 
OO
men „lesen” zu können, und das will genau so 
OO
gelernt werden, wie man als Musiker 
Noten lesen 
OO
lernen muß, wenn es auch nicht ganz so schwer 
OO
 
ist, denn Noten sind willkürliche Zeichen, deren 
OO
klangliche Erfassung vieles voraussetzt, wäh‐ 
OO
rend die Formen eines Kunstwerkes 
durch das 
OO
menschliche Selbstempfinden bedingt sind 
OO
und durch 
bloße Einfühlung schon erfaßbar 
OO
werden.
.Sehr klar wird das, was Formen zu sagen 
OO
haben, wenn man nur an 
lineare Formen denkt. 
OO
.Aufrecht emporstrebende Linien lösen in uns 
OO
ohne weiteres die Empfindung stolzen Aufrecht‐ 
OO
stehens aus, horizontale Linien geben uns das 
OO
Gefühl des Hingelagertseins, und so löst 
jedes 
OO
Lineament 
Bewegungsimpulse in unserem Kör‐ 
OO
per aus, die eine offene Seele in ihre Empfindungs‐ 
OO
Sprache überträgt.
.Aber auch Hell und Dunkel sprechen in dieser 
OO
Sprache, und wenn hier von dem Geheimnis der 
OO
Form die Rede ist, so darf man nicht etwa glau‐ 
OO
ben, daß die 
Farben eines Bildes in diesem Sinne 
OO
nicht zur Form gehören würden!
.Wir reden hier nicht von 
gegenständlichen 
OO
Formen, sondern von der 
Kunstform, in der 
OO
allein die Intuition des Künstlers ihren Ausdruck 
OO
findet.
.Da steht bei einem Gemälde die 
Farbe in 
OO
allererster Linie, und 
jede Farbe, ganz gleich 
OO
auf welchen Gegenstand der Darstellung sie sich 
OO
 
beziehen mag, ist in einem guten Kunstwerk 
OO
gleichsam eine gespielte „Note” der ganzen Sym‐ 
OO
phonie und kann nur verstanden: also 
richtig 
OO
empfunden werden, wenn man imstande ist, ihre 
OO
Beziehungen zu sämtlichen 
anderen Farben des 
OO
Bildes zu entdecken und, 
losgelöst vom Ge‐ 
OO
genstande, in sich nachzuerleben.
.Welches Bindemittel der Künstler für seine 
OO
Farben wählt, ob er sie dick oder dünn aufstreicht, 
OO
welche handwerklichen Bedingungen er beherr‐ 
OO
schen muß, um dieses ganze Gebilde hervor‐ 
OO
bringen zu können: das sind alles Dinge, die 
OO
sozusagen „hinter den Kulissen” vorgehen, wäh‐ 
OO
rend es für den Beschauer einzig darauf ankommt, 
OO
‒ wenn wir hier den Vergleich beibehalten wollen, 
OO
‒ das eigentliche „Bühnenbild”, so wie es der 
OO
Künstler vor uns hinstellte, 
einfühlend zu er‐ 
OO
leben, wobei ich allerdings gewiß nicht nur an 
OO
eine, dem Bühnenbild des Theaters ähnliche, oder 
OO
vergleichbare Bildgestaltung denke.
.Wer sich einmal klar darüber wird, daß es 
OO
beim „Kunstgenuß”, oder sagen wir doch lieber: 
OO
bei dem 
Erleben dessen, was Kunst ist, lediglich 
OO
auf das 
Erleben der Form des Kunstwerkes, 
OO
auf das Erfassen des inneren Lebens der Form‐ 
OO
teile untereinander und in ihrer Beziehung zum 
OO
Ganzen ankommt, und daß 
hier allein aller 
OO
 
eigentliche Kunstinhalt zu finden ist, ob es sich OO
nun um die Sixtinische Madonna, oder um die OO
Hille Bobbe von Frans Hals, um den Parthenon‐ OO
fries, oder die Bürger von Calais von Rodin han‐ OO
delt, der wird auch bald den richtigen Weg OO
finden, der ihn zum Erfassen neuerer Kunst‐ OO
werke, zum Verstehen der noch fremdartig OO
wirkenden Bestrebungen in der bildenden Kunst OO
führt. Wenn er ein Mensch ist, der sich selbst OO
seine Irrtümer einzugestehen pflegt, dann wird OO
er vielleicht mit einer gewissen Beschämung OO
im Herzen nun wieder vor Werken stehen, die OO
er noch vor kurzem ahnungslos zu verlachen OO
wagte, und wird kaum begreifen können, daß OO
hier, wo ihn jetzt tiefstes Miterleben erfaßt, für OO
ihn früher nichts anderes zu sehen war, als ein OO
„unverständliches” Chaos, das ihm „wie das Werk OO
eines Irrsinnigen” erschien, nur weil er selbst OO
mit seinen Sinnen in der Irre war und die OO
Formsprache der Kunst auch dort noch kei‐ OO
neswegs zu lesen verstand, wo er bedingungslos OO
Beifall spendete und die Kunstwerke längst zu OO
verstehen glaubte.
.In den Auslagefenstern der Buchhändler fin‐ 
OO
det der Vorübergehende neben all den Romanen 
OO
des Tages, neben aktuellen und klassischen Bü‐ 
OO
chern, eine neuartige Literatur, die sich immer 
OO
mehr einzubürgern scheint. Sie handelt in man‐ 
OO
cherlei Abwandlungen: von marktschreierischer 
OO
Geschäftigkeit bis zu stillem, ernsten Ethos, 
OO
von der weltbewegenden Kraft des 
Willens.
.Vielleicht ist es gut, daß solche Bücher ge‐ 
OO
lesen werden, denn 
von tausend Menschen wissen 
OO
neunhundertneunundneunzig ihren Willen noch 
OO
nicht zu gebrauchen und halten sich für „wil‐ 
OO
lensstark”, weil sie hypnotisierte Sklaven ihrer 
OO
Affekte sind.
.Wer möchte bezweifeln, daß ein 
geschulter 
OO
Wille das Leben 
besser zu leben lehrt, als 
OO
willenlose Schwäche, die weder befehlen noch 
OO
gehorchen kann?
.Und dennoch gibt es einen Bezirk des Le‐ 
OO
bens, in dem der Wille die edelsten Blüten ver‐ 
OO
nichtet, in dem er als Zerstörer auftritt, sobald 
OO
er gerufen wird.
 
.Ich weiß, daß ich mich mit vielen in Wider‐ 
OO
spruch setzen werde, aber jeder wahre Künstler 
OO
wird mich ohne weiteres verstehen, wenn ich 
OO
sage, daß 
das Reich des künstlerischen Schaf‐ 
OO
fens 
dem Willen entrückt bleiben muß, soll 
OO
seelisch Tiefstes in der Sprache der Kunst zu‐ 
OO
tage treten.
.Man spricht zwar vom „Kunstwillen” eines 
OO
Zeitalters, von dem, was einzelne Künstler „wol‐ 
OO
len”, aber man sollte hier richtiger vom Kunst‐ 
OO
Trieb sprechen, vom inneren Zwang des 
Müs‐ 
OO
sens, unter dem ein jeder wahrhafte Künstler 
OO
steht, denn alles „Gewollte” bedeutet in der 
OO
Kunst 
Verfälschung, läßt bloßes Handwerk 
OO
übrig, wo das Werk mit heiliger Glut erfülltes 
OO
Priestertum fordert.
.Gewiß muß der Künstler das Handwerkliche, 
OO
das ihn erst zur Darstellung befähigt, von Grund 
OO
auf verstehen, allein, das ist allererste 
Vorbe‐ 
OO
dingung und würde ihn, für sich allein be‐ 
OO
trachtet, niemals zum 
Künstler machen.
.Als 
Künstler muß er seiner tiefsten 
see‐ 
OO
lischen Erregung folgen und 
nicht den Im‐ 
OO
pulsen seines Willens, wo immer sie ihre Aus‐ 
OO
lösung gefunden haben mögen.
.Je rücksichtsloser er sich seinem inneren, 
OO
kunstgemäße Formgestaltung heischenden „Müs‐ 
OO
sen” ohne Widerstand ergibt, desto reiner wird 
OO
das Werk der Kunst sein, das er schafft.
 
.Deshalb kann auch ein wahrer Künstler nie‐ 
OO
mals ein „Programm” aufstellen, nach dem er 
OO
zu schaffen gedenkt, ohne dadurch sein Werk 
OO
auf das Empfindlichste zu schädigen, ohne es in 
OO
seinem Besten zu verfälschen.
.Der 
Wille des Schaffenden muß stets be‐ 
OO
schränkt bleiben auf das Gebiet des rein 
Hand‐ 
OO
werklichen, in dem sein künstlerisches Müssen 
OO
Ausdruck finden soll. Er kann nur die 
Mittel 
OO
wählen, die seinem seelischen Gestaltungstrieb 
OO
am besten 
dienen werden.
.Sobald er das 
Mittel zum 
Zweck werden 
OO
läßt, sobald ihm 
Technisches mehr gilt als 
OO
Seelisches oder von ihm auch nur auf gleiche 
OO
Stufe erhoben wird, bringt er 
Attrappen statt 
OO
wahren 
Lebens, gibt er Steine statt Brot.
.Ich sehe die Kunst unserer Tage mehr denn 
OO
je in dieser Gefahr...
.Man spricht mehr denn je vom „Geiste” und 
OO
von „geistigem Ausdruck” in der Kunst, aber 
OO
man meint diesen Geist zu besitzen im 
Affekt 
OO
und seinem Ausdruck: der 
Geste. Man weiß 
OO
nichts mehr vom 
Geiste, der 
lebensschwanger 
OO
über dem Chaos schwebt und der 
allein in 
OO
der zum Leben drängenden Form das Leben 
ins 
OO
Dasein rufen kann.
.Der 
Wille der Künstler hat die Grenze über‐ 
OO
 
schritten, die ihm gezogen ist, und drängt sich 
OO
überlaut in das geheimnisvolle Flüstern der gött‐ 
OO
lichen Stimme, die allein den Schaffenden leiten 
OO
kann, soll eine 
Schöpfung und nicht eine 
OO
Mache entstehen.
.Die Künstler selbst sehen ihren Irrtum nicht. 
OO
.Befangen im Affekt, nennen sie den Über‐ 
OO
griff des Willens in ein Gebiet, das ihm ewig 
OO
verschlossen bleiben sollte, ihren 
Willen zu 
OO
einem neuen Stil.
.Ja, ihre Wortführer gehen so weit, diesen Stil 
OO
bereits zu definieren, und erklären aller Kunst den 
OO
Krieg, die nicht „die Zerrissenheit unserer Zeit 
OO
zum Ausdruck bringt”. (Das ist wörtliches Zitat!) 
OO
.Weiter läßt sich die Verwirrung kaum mehr 
OO
treiben, und so sehen wir denn Tag für Tag mehr 
OO
Hände und Gehirne am Werk, ein künstlerisches 
OO
Chaos zu gestalten, Hände und Gehirne, die, 
OO
zum Teil, vielleicht die Weihe in sich tragen, um 
OO
aus Chaotischem einen Kosmos schaffen zu kön‐ 
OO
nen, vorausgesetzt, daß sie sich selbst ihrer der‐ 
OO
zeitigen Versklavung an das Chaos bewußt wür‐ 
OO
den und ihr zu entfliehen trachteten.
.All dies Unheil aber entsteht aus einem fol‐ 
OO
genschweren Mißverständnis des Stil-Begriffes. 
OO
.Stil, 
als ein Lebendiges, entsteht 
ungewollt, 
OO
sobald die Triebkräfte eines Lebens in Harmonie 
OO
zusammenwirken. 
OO
 
.Was man aber in unseren Tagen als „Stil” 
OO
bezeichnet, ist nur versteinerte 
Geste, ist uni‐ 
OO
forme 
Konvention und nichts mehr.
.„
Gewollter Stil” ist ein Widerspruch in 
OO
sich selbst.
.Entweder, ein Mensch 
hat Stil infolge der 
OO
Harmonie seiner lebendigen Kräfte, und dann 
OO
wird sich dieser Stil auch seinen 
Werken mit‐ 
OO
teilen, falls er ein Künstler ist, oder er hat ihn 
OO
nicht, er ist selbst „stillos”, dann wird all sein 
OO
„Wille zum Stil” auch seinem Werke nicht zum 
OO
Stil verhelfen, sondern bestenfalls eine leere 
OO
Form zu Tage fördern, eine Attrappe, die un‐ 
OO
mündige Seelen täuscht durch ihre große Geste, 
OO
der das Leben fehlt.
.Sein Werk gleicht dann der Vogelscheuche, 
OO
die erst den Spatzen imponiert, bis sie schließ‐ 
OO
lich doch merken, daß ‒ „nichts dahinter ist”. 
OO
.So ist denn auch alles große Getue, das 
OO
sich als Fundamentlegung zu einem neuen Zeit‐ 
OO
stil gebärdet, eitel Torheit und aufgeblasenes 
OO
Gernegroßtum, denn was vom Einzelnen gilt, das 
OO
gilt hier auch von den 
vielen Einzelnen, die 
OO
eine Zeitgemeinschaft bilden.
.Wollen wir die Sehnsucht nach einem „Stil 
OO
unserer Zeit” befriedigt sehen, dann muß der 
OO
„
Wille zum Stil” verschwinden.
 
.Dann muß der Wille zurückverwiesen wer‐ 
OO
den in seine ihm zukommenden Grenzen, muß 
OO
dienen lernen, dienen 
wollen, wo er jetzt den 
OO
Herrn spielen möchte. Und 
wäre es nur immer 
OO
noch 
wirklicher „
Wille”, der sich so gebärdet! 
OO
Es ist ja doch allermeistens nichts anderes als 
OO
ungezügelter 
Affekt, der seine Zeit gekommen 
OO
wähnt, sich auszutoben.
.Zu wahrhaftem 
Stil in der Kunst gelangen 
OO
wir nur, wenn jeder Künstler wieder 
in Ehr‐ 
OO
furcht vor dem Gott in seiner Brust zu seinem 
OO
Handwerkszeug greift; auf nichts bedacht, als 
OO
seiner Seele Schöpfungsdrang zu folgen, und 
OO
seine Mittel zu treuem Dienste am Werk der 
OO
lebendigen Gestaltung zu erziehen.
.Mag dieser Stil dann „groß” genannt werden 
OO
oder nicht, er wird 
unser Stil sein, er wird der 
OO
Nachwelt zeigen, daß auch in uns etwas wirklich 
OO
Echtes lebte, nicht nur der Talmi-Firlefanz, auf 
OO
den allein sie schließen müßte, blieben aus un‐ 
OO
serer Zeit keine 
anderen Werke der Kunst er‐ 
OO
halten, als die verkrampften hohlen Ausdrucks‐ 
OO
gesten und Kunst-Grimassen derer, die sich als 
OO
Pioniere einer neuen „stilvollen Kultur” gebär‐ 
OO
den und selbst nicht fühlen, daß ihre ganze 
OO
Mache den Kapriolen der Clowns im Zirkus 
OO
zum Verwechseln ähnlich ist, ‒ nur leider 
nicht 
OO
so ernst zu nehmen bleibt, wie diese Arbeit 
OO
ehrlicher Artisten.
 
.Ich will hier nicht von Werken sprechen, zu 
OO
denen der Maler, wie etwa ehedem Gabriel von 
OO
Max, durch 
spiritistische Séancen angeregt 
OO
wurde, oder gar von den fragwürdigen Erzeugnis‐ 
OO
sen „begnadeter” Mal-Medien und solcher Maler, 
OO
die sich gerne dafür halten lassen. Es wird viel‐ 
OO
mehr die Rede sein vom Übersinnlichen im 
OO
Schaffensvorgang bei einem 
jeden wahrhaf‐ 
OO
tigen 
Künstler, ‒ von dem geheimnisvollen 
OO
Etwas, das die treibende 
Ursache des Schaffens 
OO
bildet: von den in sinnlichen Formen Darstellung 
OO
suchenden 
Seelenkräften, die in manchen Men‐ 
OO
schen, ‒ den echten „
Künstlern”, ‒ in einer 
OO
nach Ausdruck drängenden Tendenz gegeben sind, 
OO
um dann durch die künstlerische Tat zu Tage zu 
OO
treten.
.Der Laie macht sich im großen und ganzen 
OO
meistens eine sehr irrige Vorstellung zurecht, wenn 
OO
er sich das Schaffen, das Schaffen-
müssen eines 
OO
wirklichen Künstlers erklären will.
.Die fast allgemeine Annahme ist, daß ein sol‐ 
OO
cher Mensch eben sein Métier „gelernt” hat und 
OO
nun bestrebt ist, es anzuwenden. Man verwechselt 
OO
das Künstlertum mit dem erlernbaren 
Beruf, 
OO
der ihm zur Schaffens-Äußerung 
verhilft, wäh‐ 
OO
 
rend es eine psycho-physisch begründete, ange‐ 
OO
borene Eignung eines Menschen ausmacht, der 
OO
Vermittler sinnlich faßbaren Ausdrucks für sonst 
OO
unfaßbare Seelenregungen zu sein.
.Was sich für einen geborenen Künstler 
er‐ 
OO
lernen läßt, ist nur 
die technische Handha‐ 
OO
bung der Ausdrucksmittel seiner Kunst, was 
OO
sich 
üben läßt, ist 
die Beobachtung der in 
OO
seiner Kunst zu brauchenden Wirkungs‐ 
OO
mittel im Schaffen der Natur.
.Hier, im Schaffen der Natur, findet der Künst‐ 
OO
ler auch die ewigen kosmischen 
Gesetze ausge‐ 
OO
sprochen, denen er selbst in seinem Schaffen sich 
OO
unterordnen muß, will er nicht seine Ausdrucks‐ 
OO
kraft ins Chaotische strömen lassen und will er 
OO
wirklich den „tanzenden Stern” aus dem Chaos 
OO
gebären, von dem die Macht ausgeht, seine eigenen 
OO
Welten in ihren geordneten Bahnen zu erhalten. 
OO
.„Schaffen” 
im künstlerischen Sinne ist nicht 
OO
das Erscheinenlassen einer Form aus dem 
Nichts. 
OO
Künstlerisches Schaffen ist: 
Organisieren. 
OO
.„Formlose Kunst” ist ein Unding. Etwas, wie 
OO
das Lichtenbergsche „Messer ohne Heft und 
OO
Klinge”.
.Alle Kunst ist seelische Bewegung, 
die 
OO
zur Form gestaltet wurde.
.Wo also 
der durchgereifte Kristallisa‐ 
OO
 
tionsprozeß fehlt, wo seelische Bewegung nicht 
OO
zur 
Gestaltung, zur 
Form geworden ist, dort 
OO
darf man füglich nicht von „
Kunst” reden, dort 
OO
handelt es sich lediglich um unvermögende Ver‐ 
OO
suche, seelische Bewegung zu gestalten, oder um 
OO
die Bemäntelung dieses Unvermögens durch ein 
OO
neues oder altes Schlagwort.
.Unsere Zeit ist reich an solchen Erscheinungen, 
OO
und es fehlt ihnen allen nicht an begeisterten 
OO
Harfnern, die ihren fragwürdigen Göttern in allen 
OO
Tonarten, aus der eigenen Ekstase heraus, Lobes‐ 
OO
hymnen zu singen wissen.
.Um Schlagworte ist man niemals verlegen. 
OO
Auch das berühmte: „Sprengen der Form”, durch 
OO
das man hilfloses Unvermögen als eine Überfülle 
OO
der Kraft zu deuten beliebt, ist ein schönes Schlag‐ 
OO
wort.
.Wo ein wirklicher „Künstler von Gottes Gna‐ 
OO
den” eine hergebrachte Form zu „sprengen” unter‐ 
OO
nimmt, da ist längst 
seine eigenschöpferische 
OO
Form vorhanden, und der Edelguß seelischer, 
OO
klingender Glockenmetalle strömt nicht formlos 
OO
dahin, sondern wird umgegossen in eine erweiterte, 
OO
längst die alte umfassende neue Form.
.In der Kunst ist das „Gottesgnadentum” auch 
OO
heute noch nicht abgeschafft und wird auch 
OO
trotz aller bolschewistischen Agitationskunst sich 
OO
 
nicht abschaffen lassen. „Ersatz” dafür ist zwar 
OO
reichlich vorhanden, aber das Hochland der Kunst 
OO
liegt unerreichbar für seine Usurpatorengelüste. 
OO
.Wer nicht von der Urnatur zum Künstler 
OO
gebildet, zum Schaffen 
gezwungen wurde, der 
OO
bleibe fern von ihrem Allerheiligsten!
.„Nimm deine Schuhe von den Füßen, denn 
OO
der Ort, da du stehst, ist heiliges Land” ‒ so 
OO
spricht Natur zu jedem, den sie zum Künstler 
OO
schuf, und wehe ihm, wenn er die Göttergabe 
OO
die ihm wurde, jemals profaniert. Er wird niemals 
OO
zurückfinden in das Reich des ursprünglichen 
OO
Schaffens, das ihm vorbehalten war.
.Die aber 
nicht berufen sind und 
dennoch 
OO
die Toga des Künstlers um ihre Schultern dra‐ 
OO
pieren, betrügen nur 
sich selbst, indem sie 
an‐ 
OO
dere betrügen.
.Gras bleibt Gras, so sehr es sich auch recken 
OO
mag, um zum Baume zu werden!
.Eine kleine Zeit hin mag es wohl gelingen, 
OO
alle Geister vor den Siegeswagen eines überschätz‐ 
OO
ten Epigonen zu spannen, aber die ihn heute 
zie‐ 
OO
hen, werden 
selbst ihn schon morgen 
stürzen. 
OO
.Die seelischen Kräfte, die im wahrhaften 
OO
„Künstler” sich offenbaren wollen, sind ‒ latent 
OO
und ohne Äußerungsdrang ‒ in jedem Menschen. 
OO
 
.Würde sie jeder in sich 
erkennen, dann würde 
OO
die Menschheit im Künstler ihren berufenen Zei‐ 
OO
chendeuter: den Seher ihrer geheimsten Regungen 
OO
verehren, und es wäre nicht möglich, daß sich 
OO
Abertausende durch allerlei Scheinwerk täuschen 
OO
ließen, das von wahrhafter „
Kunst”: vom Werke 
OO
der geborenen „
Künstler”, nur den 
Namen 
OO
stiehlt.
.Das Werk des Künstlers entsteht 
nicht durch 
OO
den 
Nachahmungstrieb der Natur gegenüber. 
OO
Der Künstler, auch wenn er sich selbst so wenig 
OO
kennt, daß er es etwa 
meint, will 
niemals die 
OO
Natur „
wiedergeben”.
.Die Natur bringt ihm nur die 
Auslösung 
OO
einer seelischen Bewegung, und um dieser seeli‐ 
OO
schen Bewegung nun 
Ausdruck in sinnenfälliger 
OO
Weise zu schaffen, 
kann er mehr oder weniger, 
OO
je nach der Sonderart seiner Begabung, die For‐ 
OO
men oder Farben der Natur, ihre Erscheinung im 
OO
allgemeinen oder im einzelnen 
benutzen, er 
OO
kann in hohem Grade 
von dieser äußeren Er‐ 
OO
scheinung der Natur abhängig bleiben, 
kann 
OO
aber, wenn er dazu fähig ist, auch 
in ihr Inneres 
OO
dringen und 
das Wirken ihrer Kräfte in 
OO
seinem Werke entschleiern.
.Der wahrhafte Künstler schafft 
immer eine 
OO
neue Welt aus seinem Innern, indem er die Be‐ 
OO
 
wegungen seiner Seelenkräfte zu Formen sinnen‐ 
OO
fälligen Ausdrucks gestaltet, auch wenn diese neue 
OO
Welt der äußeren Erscheinungswelt auf das Ge‐ 
OO
naueste zu gleichen scheint.
.Inwieweit sich diese neue, durch Eigenschöp‐ 
OO
fung entstandene Welt mit den Formen der äuße‐ 
OO
ren Natur deckt, das ist Sache der Begabungsart, 
OO
und keineswegs ist, wie ich schon sagte, „Natur‐ 
OO
treue”, in diesem 
äußeren Sinn, ein Gradmesser 
OO
für die Höhe oder den Umfang einer Begabung. 
OO
.Diesen Gradmesser finden wir nur, wenn wir 
OO
in jedem Kunstwerk, das diesen hohen Namen 
OO
verdient, nach der 
Intensität des Erlebens 
OO
einer seelischen Bewegung forschen, und diese 
OO
gibt sich zu erkennen in der Intensität der daraus 
OO
entstandenen sinnenfälligen 
Ausdrucksform.
.Ich glaube klar genug gesagt zu haben, daß 
OO
diese Ausdrucksform wohl den äußeren Formen 
OO
und Farben der Natur entsprechen 
kann, aber 
OO
keineswegs ihnen etwa in jedem Falle entsprechen 
OO
muß.
.Ein Werk der Malerei oder Plastik kann ein 
OO
Kunstwerk höchsten Ranges sein, auch wenn seine 
OO
Formen und Farben nirgendwo in der Natur ihre 
OO
Entsprechungen haben, aber was immer es an 
OO
Formen zeigt, muß 
gestaltet, und innerhalb die‐ 
OO
ser Formenwelt 
rhythmisch geordnet erschei‐ 
OO
nen, oder es hört auf, ein „
Kunstwerk” zu sein. 
OO
 
.Welcher „
Richtung” man einen „Künstler” 
OO
zuzählen will oder welcher er sich selber zuzählt, 
OO
ist für seine Wertung völlig gleichgültig. Die Frage 
OO
muß immer lauten: „ist seine 'Richtung' 
echt, 
OO
ist es wirklich 
seine 'Richtung' oder '
richtet' 
OO
er sich selbst”, ‒ das Wort hier im andern Sinne 
OO
verstanden, ‒ indem er zeigt, daß er selbst kein 
OO
eigenes „
Müssen” in sich trägt, sondern sich 
OO
nach einem 
Anderen richtet?
.All diese „Richtungen” in der Kunstbeflissen‐ 
OO
heit unseres an wirklicher „Kunst” so armen Zeit‐ 
OO
alters sind ja nur 
möglich dadurch, daß stets ein 
OO
ganzer Klüngel solcher, die 
keine eigene Rich‐ 
OO
tung haben, im Hinterhalt liegt und sich, sobald 
OO
einer kommt, der mit seiner 
eigenen Richtung 
OO
erfolgreiche Bahnen zieht, an sein Schlepptau 
OO
hängt.
.Und wer von denen, die heute 
über Kunst 
OO
zu 
schreiben wagen, fühlt denn die großen Zu‐ 
OO
sammenhänge mit dem Ursprung aller Kunst aller 
OO
Zeiten und Völker so tief im Blute strömen, daß 
OO
ihm ein 
Recht daraus würde, über dieses Myste‐ 
OO
rium schreiben zu 
dürfen??!
.An den Fingern einer Hand sind sie aufzu‐ 
OO
zählen, die heute „
berufen” wurden, das hohe 
OO
Amt des Sprechers für die Kunst zu verwalten. 
OO
.So kommt es denn, daß diese Hinterhältler, 
OO
 
die sich ans Schlepptau eines „Echten” hängen, 
OO
massenweise beflissene und für alles mit Worten 
OO
gewappnete Anreißer auffischen, die dann dem 
OO
staunenden Publikum mit überlegener Geste den 
OO
endlichen Triumph der „Kunst” in der „neuen 
OO
Richtung” verkünden.
.Wäre Kunst, wie es heiß zu wünschen ist, 
OO
eine Angelegenheit der allgemeinen Bildung, dann 
OO
wüßte auch der gebildete Laie, daß jede große 
OO
Kunsterneuerung nur von 
Einzelnen ausging 
OO
und daß deren Mitläufer bald in wohlverdiente 
OO
Vergessenheit gerieten. Würde Kunst als 
Lebens‐ 
OO
äußerung verstehen gelehrt, dann wüßte jeder, 
OO
daß echte Künstlerschaft 
stets und zu allen 
OO
Zeiten nur auf den Schultern Einzelner ruhen 
OO
kann und daß jedes „Programm” in der Kunst 
OO
den Tod alles ehrlich-wahren Schaffens bedeutet. 
OO
.Der wirkliche „Künstler” muß malen, muß 
OO
meißeln, 
wie es ihm der Gott in seinem In‐ 
OO
nern befiehlt, einerlei welchen Namen man 
OO
seiner Ausdrucksart geben mag.
.„Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Amen!” 
OO
.Die aber sich zu „Richtungen” zusammentun, 
OO
zeichnen sich zumeist dadurch aus, daß sie auch 
OO
einmal 
anders konnten, bis sie aus suggestib‐ 
OO
ler Schwäche sich umnebeln ließen von dem 
OO
Weihrauch, den man einem oder dem andern 
OO
 
sonderlinghaften, aber 
echten Künstler, 
nicht 
OO
wegen seines 
Künstlertums, sondern 
wegen 
OO
seiner bizarren Darstellungsallüren dar‐ 
OO
brachte, wenn sie nicht gar zu denen gehören, 
OO
die 
allerdings nicht „
anders können”, weil 
OO
ihnen 
alles tatsächliche „
Können” 
fehlt. 
OO
.Wer den ganzen Kunstbetrieb ‒ Verzeihung, 
OO
aber man kann es nicht anders nennen, ‒ an 
OO
den heutigen Kunststätten auch nur einigermaßen 
OO
kennt, der weiß auch, daß noch ganz 
andere, 
OO
wenig erfreuliche Motive viele dazu bringen, ihre 
OO
eigene Richtung aufzugeben und sich einer „neuen 
OO
Richtung” zu verkaufen, die Erfolg verspricht.
.Es sind durchaus nicht immer unlautere Ele‐ 
OO
mente, die so handeln. Aber wenn ein Maler 
OO
jahrelang sein Bestes zu geben sucht, und er muß 
OO
die Erfahrung machen, daß ihm die geschäftlich 
OO
erfolgreichsten Kunsthändler die Türen verschlie‐ 
OO
ßen, während die „neue Richtung” mit ihrem 
OO
durchsichtig oberflächlichen Rezept auf allen 
OO
Wänden prangt, dann gehört schon eine seltene 
OO
Festigkeit und Charakterstärke dazu, weiter zu 
OO
darben, während sich die Herren der „neuen Rich‐ 
OO
tung” mit dem leichtverdienten Gelde reicher 
OO
Kunst-Snobs gute Tage bereiten.
.Man sagt, daß Wohlleben das Schaffen so 
OO
manchen Künstlers untergraben habe. Es mag 
OO
 
das in vereinzelten Fällen wahr sein, aber ich 
OO
glaube behaupten zu dürfen, daß die gemeine 
OO
materielle Not 
viel mehr Unheil im Bereiche 
OO
der Künstlerschaft angerichtet hat!
.Nicht alle von der Natur zur Künstlerschaft 
OO
Berufenen haben die nötige 
Ehrfurcht vor ihrem 
OO
eigenen Priestertum, die sie befähigen könnte, 
OO
jeder Not die Stirne zu bieten.
.Soll der wüste Indianertanz, der als modernes 
OO
„Kunstleben” auch vielversprechende junge Kräfte 
OO
in Massen für alles wahrhafte Künstlertum ver‐ 
OO
dirbt und zu Grunde richtet, nicht noch weiter 
OO
ansteckend stets neue Reihen in seine Delirien 
OO
ziehen, soll nicht weiterhin eine Wertvernichtung 
OO
großen Stils am Nationalvermögen aller Länder 
OO
zehren, dann muß sich das kaufende Publikum 
OO
endlich einmal daran erinnern, daß wahrhafte 
OO
„Kunst” nur gedeihen kann, wenn das 
Volks‐ 
OO
empfinden hinter ihr steht.
.Erst aber, wenn man sich erinnert, daß der 
OO
„Künstler” kein Dekorateur der leeren Wand‐ 
OO
flächen unsrer Wohnräume, sondern ein Künder 
OO
und Deuter der 
Seele ist, wird auch das Volks‐ 
OO
empfinden dem Schaffen seiner Künstler den er‐ 
OO
forderlichen Rückhalt geben 
können.
.Ein jeder berufene echte Künstler ist ein 
OO
Brückenbauer, der das Reich der äußeren Sinnen‐ 
OO
 
welt mit den Gestaden des Übersinnlichen ver‐ 
OO
bindet.
.Man muß nur über diese Brücke zu gehen 
OO
wissen, das heißt: man muß das stete Bewußtsein 
OO
in sich wach erhalten, daß in jedem Werke echter 
OO
Kunst 
eine seelische Bewegung, 
ein seeli‐ 
OO
sches Erlebnis nach 
Ausdruck ringt, und muß 
OO
eben dieses „
Erlebnis” in sich 
nachzuerleben 
OO
suchen.
.Eine solche Stellungnahme des Publikums 
OO
würde auch gar bald der leidigen Großmannssucht 
OO
der Mäßigbegabten, die sich so gerne „Künstler” 
OO
nennen hören, ein Ende bereiten.
.Es gibt ja so viele Gebiete, auf denen eine 
OO
erträgliche Begabung Ersprießliches leisten kann. 
OO
Nicht jede gute Veranlagung zum Malen oder 
OO
Modellieren, selbst nicht ein hervorragender Ge‐ 
OO
schmack in den Bereichen der Farbe und Form, 
OO
ja nicht einmal die beste Beobachtungsgabe und 
OO
Treffsicherheit in der Darstellung, berechtigen 
OO
ohne weiteres einen solchen 
Könner, sich unter 
OO
die „
Künstler” zu zählen.
.Hier tut eine Entwirrung der Begriffe bitter 
OO
not, wenn sich etwas zum Guten ändern soll.
.Es hat Künstler gegeben, Künstler 
aller‐ 
OO
ersten Ranges, die bei jedem Werke mühevoll 
OO
mit den einfachsten Problemen der Darstellung 
OO
ringen mußten.
 
.Von einem überaus feinkultivierten hollän‐ 
OO
dischen Maler erzählt man, daß er oft lieber 
OO
eine Situation, die ihn künstlerisch anregte, in 
OO
Worten in sein Notizbuch schrieb, da ihm 
OO
das Zeichnen eine Qual war, das Zeichnenkönnen 
OO
nicht immer hinreichend zu Gebote stand. Seine 
OO
Werke aber sind 
echteste und 
tiefste „Kunst”. 
OO
Aus jedem seiner Bilder spricht eine im Inner‐ 
OO
sten bewegte Seele.
.Man behauptet: „Das Publikum in seiner All‐ 
OO
gemeinheit wird niemals fähig sein, große Kunst 
OO
aus sich heraus zu würdigen. Es sucht 
die Anek‐ 
OO
dote, klebt nur 
am Gegenstand und 
ahnt 
OO
nichts von wirklichen künstlerischen Werten.”
.Wenn man damit das Publikum treffen will, 
OO
so wie es 
jetzt ist, irregeleitet durch das alle paar 
OO
Jahre in anderen Dissonanzen ertönende Feldge‐ 
OO
schrei der „Richtungen”, irregeleitet durch eine 
OO
von mehr oder weniger Unberufenen geschriebene 
OO
oberflächliche Kunstliteratur, dann mag man Recht 
OO
haben.
.Aber die Kräfte der Seele, in denen alle Kunst‐ 
OO
schöpfung ihre letzte Ursache hat, lassen sich 
OO
nicht 
auf die Dauer verschütten. Man muß nur 
OO
den Unrat lockern, der sich seit Generationen 
OO
angesammelt hat, und die Kräfte der Seele wer‐ 
OO
den zeigen, daß sie noch am Leben sind. 
OO
 
.Den weitaus meisten Menschen sind die Werke 
OO
der bildenden Kunst, wenn nicht reine 
Schmuck‐ 
OO
Objekte, so doch nur 
Abbildungen, Schilde‐ 
OO
rungen, Darstellungen irgendeines Geschehnisses, 
OO
einer landschaftlichen Szenerie, einer Gestalt, 
OO
eines Menschen oder auch anderer Lebewesen, 
OO
‒ mitunter, wie bei Stilleben, auch der „leb‐ 
OO
losen Dinge”.
.Spricht man daher von Kunst und Weltan‐ 
OO
schauung, so setzt man sich leicht dem Mißver‐ 
OO
ständnis aus, als rede man von dem möglichen 
OO
Darstellungs-Inhalt eines Kunstwerkes.
.Nun kann gewiß auch der dargestellte 
Gegen‐ 
OO
stand, im weitesten Sinne, einer Weltanschauung 
OO
Ausdruck geben, wobei man nur an die religiöse 
OO
Kunst aller Zeiten zu erinnern braucht, ‒ allein, 
OO
nicht 
dieser, durch den 
Darstellungsgegen‐ 
OO
stand erkennbare Ausdruck einer Weltanschau‐ 
OO
ung ist hier gemeint, sondern die Weltanschau‐ 
OO
ung, die sich in der Auffassungs- und Darstel‐ 
OO
lungs-Art eines jeden Künstlers verrät, ganz 
OO
gleich, 
welchen Gegenstand der Außenwelt oder 
OO
 
seiner Phantasie er durch sein Bildwerk vor 
OO
Augen stellt.
.Ich gehe sogar noch weiter, indem ich aus‐ 
OO
drücklich betone, daß ein Bildwerk selbst auf 
OO
jede, noch so vage Anlehnung an Gegenständ‐ 
OO
liches 
verzichten, daß es eine reine Symphonie 
OO
der 
Farben oder der 
Formen sein kann, und 
OO
dennoch ‒ 
dann erst recht, ‒ eine ausge‐ 
OO
prägte 
Weltanschauung zum Ausdruck bringt. 
OO
.Wer die majestätisch feierlichen Grabmale 
OO
und die wie aus Schöpfungskräften kristallisierten 
OO
Brunnen des viel zu früh verstorbenen Schweizer 
OO
Bildhauers Hermann Obrist kennt, wird mich 
OO
ohne weiteres verstehen.
.Aber auch wenn ein Künstler in der Wahl 
OO
seiner Motive sich als Diener einer bestimmten 
OO
Weltanschauung zeigt, ist es noch lange nicht 
OO
ausgemacht, daß diese Weltanschauung auch wirk‐ 
OO
lich die 
seine ist, und über alles Gegenständ‐ 
OO
liche hinaus verrät er sich dem Kundigen 
durch 
OO
sein Werk als solches!
.Gar viele Maler haben, seit 
Giotto seine 
OO
Fresken in der Arena zu Padua schuf, die Mo‐ 
OO
tive der christlichen Heilsgeschichte und mancher 
OO
Heiligenlegende behandelt, obwohl ihre 
wahre 
OO
Weltanschauung 
recht wenig mit dem Darge‐ 
OO
 
stellten harmonierte. Ihre 
Darstellungs-
Ob‐ 
OO
jekte sind „christlich”, ihre Linie und Farbe 
OO
ist Heidentum und Freigeisterei. Bei Giotto 
OO
aber ist 
jede Linie Ausdruck reinster Religiosi‐ 
OO
tät, jeder 
Pinselstrich ein Gebet eines gläu‐ 
OO
bigen Herzens.
.Es sind 
Imponderabilien, die so zu Ver‐ 
OO
rätern der wahren Geistesart eines Künstlers 
OO
werden, die uns sagen, ob er ein seichter, hohler, 
OO
äußerlicher 
Könner, oder ein wirklicher 
Be‐ 
OO
gabter des Herzens ist, ob er nur darstellt, was 
OO
seine Zeit ihm als Motiv übergibt, oder ob er 
OO
wahrhaft 
innerlich Erfühltes aus den Tiefen 
OO
seiner Seele holt und sichtbar macht.
.In heutiger Zeit ist es sehr beliebt geworden, 
OO
wieder die Episoden des Alten und Neuen Testa‐ 
OO
mentes als Vorwurf zu künstlerischen Werken 
OO
zu wählen, aber die Künstler, die hier nun bald 
OO
eine „Verkündigung”, bald „Isaaks Opferung” 
OO
malen, ahnen es kaum, wie sehr man ihren Wer‐ 
OO
ken jene müde Skepsis anmerkt, die im Grunde 
OO
längst den Glauben 
an sich selbst verloren hat. 
OO
Sie sehen nicht, was 
Rembrandts inbrünstig 
OO
erfühlte Geisteswelt von der ihren 
trennt, und, 
OO
ewig unzufrieden, suchen sie ein unbestimmtes 
OO
Ziel, erwarten Schöpfungs-Schauer, wie sie alle 
OO
Großen kannten, ohne sich bewußt zu sein, daß, 
OO
 
allen „
Könnens” spottend, Großes nur aus einem 
OO
großen 
Geiste keimen kann.
.Jeder will 
mehr sein als er 
ist und verläßt 
OO
so, vom Ehrgeiz gejagt, den sicheren Platz, den 
OO
ihm die Natur vorbehielt, um dann wie ein 
OO
Heimatloser durch die Gefilde der Kunst zu 
OO
hetzen, ohne 
sich und seine Stätte je zu 
finden. 
OO
.Es gibt viel mehr solcher geplagter Künstler‐ 
OO
Existenzen als man glaubt, und mancher recht 
OO
berühmte Name wird aus diesen Gründen nie‐ 
OO
mals seines Ruhmes froh!
.Die 
wirklich religiösen Bilder unserer Zeit 
OO
werden 
selten unter denen zu finden sein, die 
OO
durch den 
religiösen Vorwurf sich als Werke 
OO
hoher Geistigkeit erweisen möchten. Ein 
Still‐ 
OO
leben oder eine 
Landschaft können höchste 
OO
Geisteswerte in sich tragen, können erfüllt sein 
OO
von tiefster Religiosität und so zu wahren 
An‐ 
OO
dachtsbildern werden, während daneben Bil‐ 
OO
der aus der heiligen Geschichte, trotz aller großen 
OO
Geste nichts als matte Anempfindung zu verraten 
OO
brauchen. Es bleibt dabei völlig gleich, ob eine 
OO
Begabung 
älteren Ausdrucksformen folgen zu 
OO
müssen glaubt, oder ob sie in neuen und neuesten 
OO
Formen den ihr gemäßen Ausdruck findet, ja 
OO
sich selbst erst neue Formen schaffen mag, da 
OO
 
alle, die sie um sich findet, ihrem Ausdrucks‐ 
OO
drang sich nicht bequemen können.
.Es gibt ein Wort von 
Goethe, in dem er 
OO
Stellung nimmt zu der Frage: wer als „der 
OO
Größere” zu betrachten sei, ‒ er oder 
Schiller 
OO
‒ und in dem er zu dem Schlusse kommt, die 
OO
Menschen sollten 
froh sein, daß sie „zwei solche 
OO
Kerle” hätten. ‒ Dieses Wort ließe leicht sich 
OO
variieren und auf die verschiedenen großen Strö‐ 
OO
mungen anwenden, denen unsere heutigen Künst‐ 
OO
ler folgen.
.Der ganze Streit über die „Berechtigung” 
OO
dieser oder jener Auffassung der Kunst ist ebenso 
OO
töricht wie 
überflüssig. Ja selbst die 
Bezeich‐ 
OO
nungen verwirren nur, statt zu klären, denn 
OO
bald geht ein „Expressionist” notorisch von reiner 
OO
Impression aus, bald werden einem „Impressio‐ 
OO
nisten” seine Darstellungsmittel nur zu Zeug‐ 
OO
nissen seines reinen Ausdruckswillens: 
Expres‐ 
OO
sion! Nicht anders geht es zu in der „neuen 
OO
Sachlichkeit”, im „Surrealismus”, oder der „Neu‐ 
OO
romantik”. Auch wenn die Künstler sich mit 
OO
einem wahren Eigensinn ihren „Richtungen” ver‐ 
OO
schrieben haben, begehen sie ungewollt bei der 
OO
Gestaltung jedes neuen Werkes neue Grenzver‐ 
OO
letzungen.
.Gewiß wurde die Kunstrichtung, die man mit 
OO
dem Namen „Impressionismus” bezeichnet, zu 
OO
 
einer Zeit geboren, die in einer steril-materia‐ 
OO
listischen Weltauffassung fast erstickte, und 
OO
wurde darum auch zum 
Spiegelbild jener ma‐ 
OO
terialistisch orientierten Zeit, allein darin liegt 
OO
keine unabänderliche Naturnotwendigkeit, und es 
OO
wird stets darauf ankommen, ob der jeweilige 
OO
„impressionistische” 
Künstler Geistiges zu sagen 
OO
hat oder 
nicht.
.So überzeugt auch die Freunde „expressio‐ 
OO
nistischer” Kunst dieser Auffassungsart künstle‐ 
OO
rischen Schaffens den Ausdruck des 
Geistigen 
OO
in Erbpacht gegeben haben, so sehr auch unsere 
OO
Zeit wieder nach Geistigem 
verlangt, so dürfte 
OO
es dennoch nicht schwer fallen, auch unter „ex‐ 
OO
pressionistischen” Werken gerade genug Zeug‐ 
OO
nisse 
banalster Ungeistigkeit zu finden.
.Es ist eben immer und immer wieder die 
OO
innerste 
Weltanschauung eines Künstlers, die 
OO
seinen Schöpfungen das unverwischbare Siegel 
OO
aufprägt, und im Grunde lassen sich Kunst und 
OO
Weltanschauung 
niemals trennen.
.Ein Kunstwerk ist nicht nur ein 
Schmuck 
OO
der Wand, nicht nur eine 
Darstellung irgend‐ 
OO
welcher Art, sondern stets das ‒ oft unfreiwil‐ 
OO
lige ‒ tiefste 
Seelenbekenntnis seines Schöp‐ 
OO
fers, weit über alle „
Richtungs”-Angehörigkeit 
OO
hinaus. 
OO
 
.Statt sich über die Erscheinungen, die sie be‐ 
OO
trachten, in eingehender Weise Rechenschaft ab‐ 
OO
zufordern, sind die meisten Menschen schon zu‐ 
OO
frieden, wenn sie dafür ein mehr oder weniger 
OO
treffendes 
Schlagwort finden, und glauben einen 
OO
geistigen Besitz errungen zu haben, während sie 
OO
nur dessen halbwegs zureichende 
leere Hülle 
OO
nach Hause tragen.
.Eine solche leere Hülle ist auch das Wort 
OO
von der 
modernen Kunst.
.Soll damit nur eine 
Zeitbestimmung ge‐ 
OO
troffen werden, soll das Kunstschaffen 
heute 
OO
Lebender als „moderne Kunst” sein Rubrum 
OO
finden, dann ist gegen die Bezeichnung nichts 
OO
zu sagen, aber das Schlagwort will 
anderes 
OO
ausdrücken, will eine 
Wertung sein.
.Als Wertung wurde es auch stets gebraucht, 
OO
von jeder der einander ablösenden neueren 
OO
Kunstrichtungen, die seit fünfzig Jahren als 
OO
Symptom neuen ernsten Kunstwillens auftauch‐ 
OO
ten, und 
jede dieser Richtungen machte An‐ 
OO
spruch darauf, 
die „moderne” Kunst zu sein 
OO
oder ‒ wie man jetzt lieber sagt ‒ „
die neue 
OO
Kunst”. 
OO
 
.Es gibt aber in der 
wahrhaftigen Kunst 
OO
zwar ein 
Früher oder Später, aber 
niemals 
OO
ein 
Alt und 
Neu, denn 
echte Kunst ist 
zeit‐ 
OO
los, entströmt 
ewigen Forderungen der Psyche 
OO
und kann, auch wenn Jahrtausende seit ihrem 
OO
Erstehen im Werk dahingegangen sind, 
niemals 
OO
unmodern werden.
.Insofern ist also die Bezeichnung „moderne 
OO
Kunst” entweder auf 
alle echte Kunst aller 
OO
Zeiten anzuwenden, oder man hat es hier nicht 
OO
nur mit einem 
Schlagwort, sondern mit einer 
OO
bedenklichen 
Phrase zu tun.
.Gewiß gibt es auch 
Modeströmungen in 
OO
der Kunstübung einer Zeit, und selbst die Werke 
OO
der 
Eigenartigsten und 
Besten unter den 
OO
Schaffenden können von solchen Modeströmun‐ 
OO
gen berührt sein, aber ihre Symptome sind für 
OO
den echten Kunstfreund, der seinem Fühlen 
ver‐ 
OO
trauen kann, entweder eine stärkere, mitunter 
OO
auch nur leise irritierende 
Beeinträchtigung 
OO
seines Kunstgenusses, oder sie werden von ihm 
OO
als ein sublimer 
Reiz empfunden, der ihn das 
OO
Wesen der 
Entstehungszeit des Werkes mit‐ 
OO
empfinden läßt, der aber 
außerhalb aller ei‐ 
OO
gentlichen 
Wertung des Kunstwerkes liegt.
.Wenn man also mit dem Schlagwort: „mod‐ 
OO
derne” oder „neue” Kunst nur das bezeichnen will, 
OO
 
was an einem Werke etwa der neuesten 
Zeit‐ 
OO
mode entspricht, so berührt man damit in keiner 
OO
Weise das Werk als ein Werk der 
Kunst.
.Echte Kunst entsteht aus dem innersten, 
OO
quellenden Grunde der Seele! Die tiefen 
OO
Brunnen, aus denen der wahrhafte Künstler 
OO
schöpft, reichen hinab, 
weit unter das Reich 
OO
des im Alltag 
Bewußten, 
weit unter die tief‐ 
OO
sten Tiefen des „Stromes der Zeit”, empfangen 
OO
ihre stets sich erneuernde Fülle durch tief ver‐ 
OO
borgene Quelladern ewig sich selbst gleichenden 
OO
Lebens.
.Nur das 
Gefäß: der Eimer, mit dem der 
OO
Künstler schöpft, kann 
modische Form tragen, 
OO
und wie Wasser, stets die Formen des Gefäßes 
OO
ausfüllend, in dem es gefaßt wird, gleichsam 
OO
auf diese Weise die Form des Gefäßes 
darstellt, 
OO
und dennoch in 
jeder Form immer 
Wasser 
OO
bleibt, so nimmt auch echte Kunst zwar äußer‐ 
OO
liche 
Formen an, die ihr die 
Zeit ihres Ent‐ 
OO
stehens zur Sichtbarkeit gibt, und bleibt doch 
OO
zu 
jeder Zeit die gleiche 
ewige Kunst.
.Sofern es sich nur um wirkliche 
Kunst han‐ 
OO
delt, nicht um einen Versuch, 
die Natur zu 
OO
imitieren, im Sinne des Panoramas oder des 
OO
Panoptikums, ist die Kunst 
aller Zeiten stets 
OO
„modern”, weil das 
Ewige aller Zeit Gegen‐ 
OO
wart ist und niemals „unmodern” werden 
kann. 
OO
 
.Es wird nun begreiflich erscheinen, wenn ich 
OO
sage, daß dem Glauben jeder neuen Kunstrich‐ 
OO
tung, 
ihre Werke seien nun 
allein berechtigt, 
OO
sich als moderne oder als 
die neue Kunst zu 
OO
bezeichnen, eine 
tiefe Sehnsucht zugrunde 
OO
liegt, zugleich ein unruhig gewordenes 
Ahnen 
OO
von der ewigen Moderne 
aller echten Kunst. 
OO
.Man will sagen, daß man wieder 
echte 
OO
Kunst zu schaffen willens sei, und man um‐ 
OO
schreibt das, indem man von moderner oder 
OO
neuer Kunst redet.
.Nach den großen Kunstperioden des Mittel‐ 
OO
alters und der Renaissance waren allmählich die 
OO
Brunnen echter Kunst immer mehr überwuchert 
OO
worden von dem üppig emporschießenden Un‐ 
OO
kraut bloßen 
Imitationswillens, und nur ver‐ 
OO
einzelt fanden einige Wenige ihre Zugänge, 
OO
schöpften daraus und wurden von ihren Zeitge‐ 
OO
nossen gering gewertet, weil ihre Zeit nichts 
OO
mehr von den 
Quellen der Tiefe ahnte, und 
OO
es bequemer fand, ihren Durst an den säfterei‐ 
OO
chen Stengeln und Früchten des Unkrautes über 
OO
den Brunnenrändern zu stillen.
.Am Anfang des 
neunzehnten Jahrhun‐ 
OO
derts erst begann wieder ein reges Suchen nach 
OO
den 
Quellen der Kunst. Junge, begeisterte 
OO
deutsche Künstler glaubten diesen Quellen wie‐ 
OO
 
der näher zu kommen, indem sie sich 
in der 
OO
äußeren Form den Künstlern des Mittelalters 
OO
und der Renaissance anschlossen. Sie 
erstrebten 
OO
das Höchste, aber zu den 
Quellen fanden sie 
OO
nicht zurück. In der Geschichte der Kunst 
OO
sind sie unter dem Namen der „
Nazarener”, 
OO
einer ursprünglich als Spottname gebrauchten Be‐ 
OO
zeichnung, bekannt.
.Näher den Quellen kamen schon die „
Ro‐ 
OO
mantiker”, die durch Wackenroders „
Ergießun‐ 
OO
gen eines kunstliebenden Klosterbruders” 
OO
mächtig angeregt, beinahe als seelische Vorläufer 
OO
des Expressionismus betrachtet werden können, 
OO
so fern sie auch 
in formaler Hinsicht der 
OO
expressionistischen 
Methode stehen.
.Wirklich zu den Quellen zurück fanden 
OO
erst gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhun‐ 
OO
derts einige französische Künstler, in deren Lande 
OO
die Tradition nie ganz abgerissen war, vor allem 
OO
Manet und 
Cézanne, und so ist die Bewegung, 
OO
die alle zur künstlerischen Vollendung streben‐ 
OO
den Künstler aller Nationen einmal nach Frank‐ 
OO
reich führte, keineswegs als eine „üble Auslän‐ 
OO
derei”, als ein Vergessen eigenen Wertes aufzu‐ 
OO
fassen, sondern entsprang einer 
Naturnotwen‐ 
OO
digkeit, die vor keinen nationalen Grenzen 
OO
Halt machen 
durfte.
 
.Tatsächlich zeigten auch die beiden genann‐ 
OO
ten Künstler dem Kunstschaffen 
der ganzen 
OO
Welt wieder den Weg zu den Quellen, so sehr 
OO
auch dann die Künstler verschiedener Nationen, 
OO
oder starke eigenschöpferische Begabungen, wie 
OO
etwa Hodler, oder Edvard Munch, in ihren Wer‐ 
OO
ken voneinander abweichen mögen. Sind doch 
OO
selbst Künstler, wie der bewußt aus tiefster Seele 
OO
deutsche 
Hans Thoma, oder der an mittelalter‐ 
OO
liche deutsche Frühkunst erinnernde 
Leibl, ohne 
OO
ihre Pariser Zeit überhaupt nicht zu denken.
.Einmal auf 
die ewig strömenden Quellen 
OO
hingewiesen, glaubte aber die 
neuere Generation 
OO
der Künstler mit allem Recht in den Werken 
OO
Manets und 
Cézannes noch keineswegs die 
tief‐ 
OO
sten dieser Quellen wirksam, und so entstand das 
OO
bohrende Suchen nach 
neuen, 
tieferen Quellen. 
OO
.Es ist in nicht wenigen Fällen 
eine heilige 
OO
Sehnsucht, die diese jüngeren Künstler erfüllt, 
OO
die lieber am Wege ermattet umkommen wollen, 
OO
als daß sie je das 
Ziel ihrer Sehnsucht preis‐ 
OO
geben möchten.
.Daß allerhand 
Mitläufer ohne inneren Be‐ 
OO
ruf ihnen „abgucken, wie sie sich räuspern und 
OO
spucken” nimmt den wenigen 
Echten nichts 
OO
von ihrem Wert.
 
.Verderben bringt nur das beflissene 
Kunst‐ 
OO
schreibertum unserer Tage, das im Jargon der 
OO
Jahrmarktsausrufer hinter 
jeder derartigen Er‐ 
OO
scheinung her ist, mag sie echt oder unecht sein, 
OO
und ihr „Räuspern und Spucken” unter totaler 
OO
Verkennung der 
wirklichen Wertmaße mit Em‐ 
OO
phase anpreist, als ‒ 
die „neue” Kunst.
.Statt dem Laien überzeugend darzulegen, daß 
OO
es sich hier um ein verzweifelt ernstes 
Ringen 
OO
um das Höchste und zugleich im Allertiefsten 
OO
Begründete handelt, daß aber alles, was 
bis 
OO
jetzt vorliegt, nur aus glühender Sehnsucht ge‐ 
OO
borene 
Versuche sind, zu tieferen Quellen vor‐ 
OO
zudringen, 
Versuche, auch wenn sie schon in 
OO
manchen Fällen den Sieg 
versprechen, wird 
OO
ihm alles, was irgend eine neue Richtung her‐ 
OO
vorbringt, mag es das Werk eines Echten, oder 
OO
durchsichtige Charlatanerie sein, in Bausch und 
OO
Bogen aufgeredet, oder aufzureden versucht, als 
OO
die einzige Kunst, die fürderhin noch in Be‐ 
OO
tracht kommen könne.
.Kein Wunder, wenn da viele, die noch ge‐ 
OO
sunde Instinkte in sich spüren, aber doch auf 
OO
dem Gebiet der Kunst nicht erfahren genug 
OO
sind, das Kind mit dem Bade ausschütten, und 
OO
das, was sie als ernsthafte 
Versuche allenfalls 
OO
verstehen könnten, als aufgedrungenes letztes 
OO
Ziel der Kunst rundweg ablehnen.
 
.Die Zeit wird zeigen, daß die 
Ernsten und 
OO
Echten unter den neueren Künstlern eines Ta‐ 
OO
ges ihr 
Ziel, den unmittelbarsten Ausdruck ihres 
OO
geistigen, künstlerischen Fühlens zu geben, 
er‐ 
OO
reichen werden, wenn auch das 
Endresultat 
OO
ganz 
anders aussehen mag, als man das jetzt 
OO
noch, nach den vorliegenden Versuchen, erwarten 
OO
oder gar fürchten möchte.
.Was so zutage gefördert werden wird, ist 
OO
dann keineswegs moderner als die Werke 
Giot‐ 
OO
to'
s, 
Dürers, 
Holbeins, 
Rembrandts oder des 
OO
Frans Hals.
.Es wird, wenn es das letzte Ziel 
erreicht 
OO
hat, 
ewige Kunst sein, wie die Kunst des 
OO
Mittelalters, die Kunst der alten 
Chinesen 
OO
und ihrer Schüler, der 
Japaner, die 
altgrie‐ 
OO
chische oder die beste 
ägyptische Kunst: 
OO
es wird, wie 
jedes echte Kunstwerk, von 
Lio‐ 
OO
nardo und 
Michelangelo bis zu allem Echten 
OO
unserer Tage, niemals unmodern werden 
kön‐ 
OO
nen, und so ist es nur freudig zu begrüßen, 
OO
daß auch unsere ‒ nicht immer den 
Jahren 
OO
nach ‒ „Jüngsten” einer 
echten, 
modernen 
OO
Kunst entgegen 
streben, wenn sie ihr Ziel auch 
OO
heute noch keineswegs 
erreicht haben, was ja 
OO
die Besten unter ihnen willig zugeben.
 
.„
Expressionismus” ist, ‒ fast muß man 
OO
schon sagen: „war”, ‒ 
eine der vielen modernen 
OO
Künstlerbestrebungen und wird von den Laien 
OO
meistens mit 
Kubismus, 
Futurismus, 
Sphä‐ 
OO
rismus und wie die schönen Worte alle heißen, 
OO
in einen Topf geworfen.
.Das Wort „Expressionismus” will aber als 
OO
künstlerische Bestrebungs-Bezeichnung nichts 
OO
weiter besagen, als daß die Anhänger dieser Be‐ 
OO
strebung zum unmittelbarsten 
Ausdruck, zur 
OO
„
Expression” ihres seelischen Empfindens drän‐ 
OO
gen, im Gegensatz zum „Impressionismus” der den 
OO
intensiven 
Eindruck wiedergestalten will, den 
OO
ihm die 
Außendinge vermitteln. „Expressionis‐ 
OO
mus” 
will also zu einer 
vergeistigten Kunst, 
OO
und einerlei, ob die zur Zeit unter diesem Namen 
OO
gepflegten Bestrebungen in der Malerei, der Pla‐ 
OO
stik, Literatur und Musik jemals ihr 
Ziel durch 
OO
ihre heute schon zur Mode und Manier gewordenen 
OO
Methoden erreichen 
werden oder auch nur 
OO
erreichen 
können, so hat doch solches Ringen 
OO
um den heiligen Geist, solches Streben um die 
OO
 
Weihe des heiligen Gral, wahrhaft Anspruch auf 
OO
ernsteste Beachtung.
.Daß die 
Nachläufer zur Negerkunst, zum 
OO
kulturlosen Lallen des Urzeit-Menschentieres ent‐ 
OO
arten, darf nicht davon abhalten, in den wenigen 
OO
echten Künstlern dieser Art das Ringen um 
OO
höchste Ziele anzuerkennen.
.Etwas ganz anderes ist es, ob man die 
Me‐ 
OO
thode für tauglich halten wird, zu dem erstrebten 
OO
hohen Ziele zu gelangen, und hier fehlt es meines 
OO
Erachtens auch den 
besten Künstlern, die auf 
OO
diesen Wegen wandeln, an 
philosophischer 
OO
Durchdringung des Wesens 
aller Kunst. Sie 
OO
möchten eine neue Kunst 
erschaffen, auf We‐ 
OO
gen, die sie niemals konsequent 
zu Ende zu 
OO
denken willig sind.
.Sie fanden einen 
Anfang, der eine gangbare 
OO
Straße verspricht, und sind davon derart begei‐ 
OO
stert, daß ihnen die Ruhe fehlt, das 
Ende zu 
OO
erschließen in logischer Folge, zu dem diese Straße 
OO
schließlich führen 
muß.
.Beliebt ist es heute, für jede neue „Kunst‐ 
OO
richtung” sich unter den großen Meistern der 
OO
Vergangenheit die 
Ahnen zu suchen.
 
.Aber die hier ihre Ahnen zu finden meinen, 
OO
verkleinern sich selbst, gleichen Parvenus, die 
OO
sich mit ihrem Gelde Schlösser bauen im Stil 
OO
der Großen der Vergangenheit.
.Wenn 
für die expressionistische Malerei 
OO
im Ganzen „Ahnen” gemacht werden sollen aus 
OO
allen großen Künstlern, die einem stark bewegten 
OO
seelischen 
Ausdruck in ihrer Kunst zustrebten, 
OO
und wenn sich beflissene Kunst-Snobs finden, die 
OO
für alles, in dem sie Hautgout wittern, begeistert 
OO
sind und die den auf expressionistischer Bahn 
OO
wandelnden Künstlern in suggestiv übersteigerter 
OO
Sprache diese Ahnen einzureden, aufzuschwatzen 
OO
suchen, so ist das, gelinde gesagt: ‒ „Grober 
OO
Unfug”.
.Auch die Künstler 
selbst, die auf diese, nur 
OO
durch ihre unbewußte Komik etwas versöhnende 
OO
Ahnenmacherei hineinfallen, sind sich leider 
OO
nicht bewußt, welche 
Blößen sie sich damit 
OO
geben, denn hätten sie jemals einen dieser Großen 
OO
wirklich gründlich studiert, nicht eingeengt 
OO
in ihrem Gesichtsfeld durch das Sehrohr ihrer 
OO
eigenen Wünsche, dann hätten sie finden müssen, 
OO
daß zwar in den Werken eines jeden nach beweg‐ 
OO
tem Ausdruck strebenden Künstlers 
Elemente 
OO
der expressionistischen Methode zu finden sind, 
OO
aber 
niemals losgelöst und 
für sich bestehend, 
OO
 
sondern 
eingegangen in das Werk, darin ver‐ 
OO
borgen, wie das Knochengerüst im Körper.
.Wie im Werke eines jeden guten Künstlers 
OO
auf die eine oder die andere Art „
Ornament” 
OO
verborgen sein muß, ja wie sein Werk erst da‐ 
OO
durch Halt und Ausdruck findet, so war auch zu 
OO
allen Zeiten in jedem Werke, nach starkem be‐ 
OO
wegtem Ausdruck strebender Künstler, die 
ex‐ 
OO
pressionistische Methode latent enthalten, 
OO
und es wird auch in den Werken, die erst nach 
OO
Jahrtausenden entstehen, nicht anders sein.
.Das, was die expressionistische Methode jetzt 
OO
isoliert und 
nackt zutage schafft, ist wie ein 
OO
Mensch ohne Haut, ein anatomisches Präparat, 
OO
aber ‒ kein 
Leben, so sehr sich auch die Ver‐ 
OO
treter dieser Methode zugute halten, daß erst 
sie 
OO
dazu gekommen seien, 
das Leben selbst auf‐ 
OO
zuzeigen.
.Expressionistische Methode muß in einem 
OO
auf seelisch bewegten Ausdruck angelegten Kunst‐ 
OO
werk sein, wie 
Perspektive oder 
Anatomie in 
OO
jeder Landschaft, jedem guten europäischen Fi‐ 
OO
gurenbilde der letzten Jahrhunderte stecken: ‒ 
OO
latent darin enthalten, aber nicht losgelöst, 
OO
gleichsam herauspräpariert aus der lebendigen 
OO
Neuschöpfung einer inneren, der äußeren zwar 
OO
 
mehr oder weniger ähnlichen, doch stets 
für sich 
OO
bestehenden Welt, die das Werk eines jeden ech‐ 
OO
ten Künstlers darstellt, mag es ein Werk der Ma‐ 
OO
lerei, eine Plastik, ein Werk der Literatur oder 
OO
eine musikalische Schöpfung sein, bei welch letz‐ 
OO
terer allerdings der Fall insofern etwas anders 
OO
liegt, als die „Außenwelt”, der sie entspricht, 
das 
OO
Reich der rhythmischen Intervalle, der 
OO
kosmischen Bewegung kleinster 
Energie‐ 
OO
zentren ist, die dem Nichtmusiker erst in ihren 
OO
Wirkungen, innerhalb der uns umgebenden 
OO
Erscheinungswelt, bewußt werden.
.Es ist darum 
scharf zu unterscheiden 
OO
zwischen „Expressionismus” als 
Willens-
Im‐ 
OO
puls, und expressionistischer 
Methode.
.Der expressionistische 
Willens-
Impuls stellt 
OO
eine Reaktion dar, auf die vorausgegangenen 
OO
künstlerischen Aspirationen, deren letzte Ziele 
OO
ein Ersticken im 
Ungeistigen, im 
Nur-
mate‐ 
OO
riellen bedeuteten.
.Insofern ist er 
in hohem Maße begrüßens‐ 
OO
wert.
.Aber 
Geist läßt sich nicht von 
Materie 
OO
scheiden, und das 
wirklich vergeistigte Kunst‐ 
OO
werk kann 
nur entstehen, wenn es in der inneren 
OO
Welt eines Künstlers 
Gestalt findet, ‒ auch 
OO
 
da aus subtilster Materie geschaffen! ‒ aber den 
OO
ewigen kosmischen Gesetzen 
aller Gestaltung, 
OO
sowohl in der sinnlich wahrnehmbaren Außen‐ 
OO
welt, als auch in allen metaphysisch ergründ‐ 
OO
baren Welten, entsprechend.
.Als 
Durchgangs-Station für einen innerlich 
OO
bewegten, echten Künstler mag der expressioni‐ 
OO
stischen 
Methode der gleiche Wert beigemessen 
OO
werden, wie dem Studium anderer künstlerischer 
OO
Hilfsmethoden, und in diesem Sinne sollte sie 
OO
nebenbei, zum Nutzen der Studierenden, auf 
OO
unsern Akademien betrieben werden, aber 
im 
OO
Werke des Künstlers kommt ihr nur 
dienende 
OO
Bedeutung zu.
 
.Schlagworte haben in der Welt schon den 
OO
übelsten Schaden angerichtet. Wer das nicht 
OO
weiß, der sehe sich nur im Leben des Alltags 
OO
um. Er wird da genug Beispiele finden!
.Verhängnisvoll wird aber auch die Herrschaft 
OO
der Schlagworte auf den Gebieten des mensch‐ 
OO
lichen 
Geisteslebens, und besonders dort, wo 
OO
sie das 
Empfinden einer Erscheinung verfäl‐ 
OO
schen, weil sie die Seele des Empfindenden in 
OO
irriger Weise „einstellen”.
.Zu der Kategorie solcher verderblicher Schlag‐ 
OO
worte gehören die Bezeichnungen, die von ein‐ 
OO
zelnen 
Künstlergruppen aufgegriffen wurden, 
OO
um ihrer Art der Auffassung des künstlerischen 
OO
Schaffens zu einem Namen zu verhelfen.
.Der Laie, ohnehin schon konfus gemacht und 
OO
verärgert durch dieses unruhige, ihm ganz un‐ 
OO
begreifliche Drängen der Künstler nach „neuen”, 
OO
immer wieder 
überneuerten Zielen, weiß sich 
OO
schließlich keinen andern Rat, als je nach Nei‐ 
OO
gung und Kunstgefühl die Kunstauffassung, die 
OO
ihm unter einem solchen Schlagwort entgegentritt, 
OO
 
und die ihm stets wieder und wieder als das 
OO
Alpha und Omega aller wahren Kunst aufgeredet 
OO
wird, für das 
endgültig aus diesem Wirrwarr 
OO
Erlösende zu halten, und verschreibt sich so seinem 
OO
Schlagwort, wütend, und außer sich geratend, 
OO
wenn es eines Tages wieder gestürzt werden soll. 
OO
.Längst ist der „Impressionismus” noch nicht 
OO
auf allen Linien Sieger geworden, aber lange 
OO
schon treten immer neue, ihn verwerfende an‐ 
OO
dere „Richtungen” zutage, Richtungen, die zwar 
OO
zum Teil weiter nichts als eine entsprechend 
OO
„
modernisierte” Auflage des seligen „Jugend‐ 
OO
stils” unglückseligen Angedenkens darstellen, 
OO
zum anderen Teil aber 
wirklich auf ihre Art 
OO
zu hohen, neuen Zielen weisen, wenn man auch 
OO
noch auf den Wegen zu diesen Zielen bald da‐ 
OO
hin, bald dorthin abirren mag.
.Nun soll der Laie, der eben erst kaum dabei 
OO
war, halbwegs zu begreifen, um was es sich ei‐ 
OO
gentlich beim „Impressionismus” 
handelt, schon 
OO
wieder umlernen, weil ‒ der „Impressionismus” 
OO
angeblich „überwunden” sei.
.Kein Wunder, wenn man sich sträubt, und 
OO
was sich 
nicht sträubt, und mit wildem Gesti‐ 
OO
kulieren schleunigst dabei ist, mitzulaufen, weil 
OO
es „etwas Neues, noch nie Dagewesenes” gibt, 
OO
das hat den „Impressionismus” 
ganz sicher 
OO
 
noch nicht überwunden”, weil ‒ es ihn ebenso‐ 
OO
wenig verstand, wie es das einzig 
Wesentliche 
OO
dessen begreift, was ihm unter dem Namen „Ex‐ 
OO
pressionismus” in einem Sammelsurium der ver‐ 
OO
schiedensten Strebungen entgegentritt.
.Die Wahrheit ist: daß 
weder das Wort „Im‐ 
OO
pressionismus”, 
noch die Bezeichnungen „Expres‐ 
OO
sionismus”, „Surrealismus”, „Kubismus”, „Neue 
OO
Sachlichkeit”, oder wie immer die Etikette einer 
OO
neuen Kunstrichtung lauten mag, sei es der 
OO
reinen Wortbedeutung nach, sei es in bezug auf 
OO
die darunter verstandenen praktischen Bestre‐ 
OO
bungen, irgendwie gerade 
das bezeichnen, auf 
OO
was es den ernst zu nehmenden Künstlern aller 
OO
Zeiten 
allein ankam, und auf was es auch 
OO
allen wirklich Wertvollen in 
heutiger Zeit an‐ 
OO
kommt: den 
Bekenntnistrieb ihrer Seelen‐ 
OO
kräfte im Schaffen auszuleben!
.Dazu aber gibt es die 
verschiedensten Mög‐ 
OO
lichkeiten, und das ist gut so, sonst würde die 
OO
Kunst das langweiligste Gebiet menschlichen 
OO
Geisteslebens.
.Es gibt allenfalls 
gute und 
schlechte Kunst, 
OO
‒ streng genommen überhaupt nur 
Kunst, 
OO
denn ein 
wirkliches „Kunstwerk” ist niemals 
OO
schlecht.
.Was man so landläufig als „schlechte” Kunst 
OO
bezeichnen mag, ist die Talmiware, die sich für 
OO
 
Kunst 
ausgibt und dem Publikum Sand in 
OO
die Augen bläst, damit es ihre Erbärmlichkeit 
OO
nicht sehe.
.Gewiß tauchen in jeder Zeitperiode neue 
OO
Ziele aus kosmischen Urtiefen auf, die dann die 
OO
Kräfte der Besten magnetisch an sich fesseln: 
OO
die 
erreicht sein wollen, ob auch der einzelne 
OO
Künstler auf seinem Wallfahrtswege zu Grunde 
OO
geht, oder mit Spott und Hohn übergossen wird. 
OO
Aber immer wieder handelt es sich um die gleiche 
OO
Frage: „Zeige mir, ob Du zu Deinem Streben 
OO
auch 
berechtigt bist, ‒ ob man Dich innerlich 
OO
berufen hat, oder ob Du nur ein 
Nachläufer 
OO
bist auf den Wegen, die 
nie und nimmer von 
OO
Dir betreten werden wollen, weil Du sie ent‐ 
OO
weihst!?!”
.Der wahrhaft von seinem Gott getriebene 
OO
echte Künstler kann nie im Zweifel sein über 
OO
seinen Weg, sobald er einmal die ersten Anhöhen 
OO
im Lande der Kunst erklommen hat, die ihm 
OO
das ausgebreitete Gefilde weithin zeigen.
.Er wird still seine Straße ziehen, und nur, 
OO
wenn ihm 
sein Gott eines Tages befiehlt, ur‐ 
OO
plötzlich seine Wegrichtung zu ändern, wird er 
OO
ihm gehorsam folgen, auch wenn Ruf und Namen 
OO
durch den neuen Weg gefährdet werden, den der 
OO
 
Künstler dann erst mühevoll sich selber bahnen 
OO
muß.
.Niemals aber kann er zum „Nachläufer” 
OO
entarten!
.Ein wahrer Künstler hebt die Hand nicht 
OO
zum Werke ohne 
inneren, 
verpflichtenden 
OO
Befehl, und es wird ihm stets völlig gleich‐ 
OO
gültig sein, ob man sein Werk 
dieser oder 
OO
jener Kategorie künstlerischen Schaffens zu‐ 
OO
zählen mag.
.Ob er nun auf den Grundlagen aufbaut, die 
OO
man speziell dem „
Impressionismus” verdankt, 
OO
oder ob er eine Form der Aussprache pflegt, die 
OO
irgendwo in den Sammelnamen „
Expressionis‐ 
OO
mus” miteinbezogen werden kann, das ist ja 
OO
auch 
so unsäglich nebensächlich, ‒ viel 
OO
nebensächlicher noch, als ob er diese oder jene 
OO
Farben bevorzugt, ob er überhaupt die Farbe 
OO
braucht, oder aus Schwarz und Weiß die Skala 
OO
der Töne bildet, die ihm zur Aussprache dienen 
OO
müssen, ‒ ob er große oder kleinste Formate 
OO
für sein Schaffen wählt.
.Stets wird es darauf ankommen, ob das, was 
OO
er schafft, 
echte Kunst, 
ursprünglichstes 
OO
Seelenbekenntnis ist, und aller 
Wert, auch 
OO
in 
materieller Hinsicht, wird allein nur von 
OO
 
dieser Voraussetzung her bestimmt, alle 
Dauer 
OO
dieses Wertes ruht nur in der 
überzeugen‐ 
OO
den Kraft, die dem Bekenntnis seiner Seele 
OO
innewohnt.
.Man hat allzulange den „Laien” betrogen, 
OO
indem man ihn glauben machte, das Wesentliche 
OO
der echten Kunst sei Dokumentierung der Ge‐ 
OO
schicklichkeit. „Kunst kommt doch von Kön‐ 
OO
nen”, lautet das läppische und so triviale Wort, 
OO
das man heute noch im Munde besonders Klu‐ 
OO
ger findet!
.Gewiß, ‒ aber hier handelt es sich um ein 
OO
„Können”, das aus der 
Seele strömt, ein 
Ver‐ 
OO
mögen des schöpferischen Entfaltens, ‒ 
OO
und 
nicht um eine durch „Erlernen” zu erwer‐ 
OO
bende 
Geschicklichkeit!
.Ein Künstler „
kann” etwas, weil er 
schaf‐ 
OO
fen kann, weil er nicht nur „produziert” und 
OO
Gelerntes auf mehr oder weniger geschickte Art 
OO
zur Anwendung bringt.
.Nicht die „stupende Technik”, die „korrekte 
OO
Zeichnung”, die „fabelhafte Differenzierung der 
OO
Valeurs”, und wie die schönen Lobestitel alle 
OO
heißen, durch die man geschickte 
Mache als 
OO
„
Kunst” vorzutäuschen sucht, geben jemals 
OO
einen Gradmesser ab zur Bewertung eines wahren 
OO
Kunstwerkes.
 
.Die 
schöpferische Kraft und die 
ursprüng‐ 
OO
liche Bekenntnisfreudigkeit des Künstlers 
OO
zu dem Ausdrucksdrang seiner Seelenkräfte, ent‐ 
OO
scheiden 
ganz allein über den 
Wert seines 
OO
Werkes, und sie 
allein verleihen dem Wert des 
OO
Werkes 
Dauer.
.Kein Mensch wird in hundert Jahren dar‐ 
OO
nach fragen, ob es mehr dem „Ex”- oder dem 
OO
„lmpressionismus” zuzuzählen sei, wenn ein 
OO
Kunstfühlender seinen Wert bestimmt.
.Zur Zeit 
Rembrandts gab es eine Menge 
OO
Maler, die herrlich und in Freuden lebten und 
OO
die Gunst des Publikums genossen. Heute greift 
OO
man sich an den Kopf und faßt es nicht, daß 
OO
diese traurigen Tröpfe ihren Markt hatten, wäh‐ 
OO
rend Rembrandt stets mehr im Elend versank, 
OO
je ungehemmter er dem Gott seiner großen Seele 
OO
diente.
.Als 
Kuriositäten, nicht ganz ohne Lieb‐ 
OO
haberwert, betrachtet man nunmehr diese Mach‐ 
OO
werke seiner Nebenbuhler, während das beschei‐ 
OO
denste Bildchen von Rembrandts Hand heute 
OO
fast unbezahlbar ist.
.So war es und so wird es immer sein, mag 
OO
auch die Meute hinter allen Großen kläffen, die 
OO
anderes zu offenbaren haben, als das ihr Alt‐ 
OO
bekannte.
 
.Stets wird die 
Zeit zu richten wissen, und 
OO
niemals wird sie danach fragen, durch welches 
OO
Schlagwort man die Werke eines Künstlers ein‐ 
OO
mal einzuengen suchte, oder welcher „Richtung” 
OO
er sich selbst vielleicht verschrieben glaubte.
.Was an Echtem ans Licht will, kommt aus 
OO
den 
Tiefen der menschlichen Seele, aus 
OO
göttlich klaren Brunnen, wenn es auch heute 
OO
noch manche Trübung durch das Erdreich zeigt, 
OO
das erst durchbrochen werden muß.
.Wer darf es denen, die diese Quellen rauschen 
OO
hören, heute verargen, wenn sie nun 
alles Heil 
OO
allein von 
ihren Brunnen her erwarten?!
.Die 
Echten, die 
Schaffenden, werden gar 
OO
bald erkennen, daß deshalb die 
vor ihnen 
von 
OO
Früheren begründete Kunstrichtung noch lange 
OO
nicht „überwunden” ist, werden im 
Gegenteil 
OO
sehen lernen, wie sie selbst nur fest auf dieser 
OO
Erde Boden stehen, wenn sie alles in sich sau‐ 
OO
gen, wie die Wurzeln eines Baumes, was an 
OO
echten Werten in 
jedem echten, künstlerischen 
OO
Streben aufzufinden ist.
 
.Es gibt sehr feinsinnige Kunstfreunde, die 
OO
durchaus nicht allem Neuen abhold sind, und 
OO
dennoch den neueren Bestrebungen in der Malerei 
OO
scharf ablehnend gegenüber stehen.
.Man kann das wohl begreifen, denn was bis 
OO
jetzt an Resultaten vorliegt, ist zwar reich an 
OO
einzelnen guten 
Ansätzen, aber das meiste Gute 
OO
erstickt fast im üppigen Unkraut abstruser Ge‐ 
OO
bilde, deren wilde Geste oder idiotenhafte, naiv 
OO
sein 
wollende Grimasse wahrlich jedem geläu‐ 
OO
terten Geschmack ein gelindes Grausen abnötigen 
OO
muß.
.Es geht eben hier wie überall: ‒ wer 
Kultur‐ 
OO
werte schaffen will, muß 
selbst ein gerüttelt Maß 
OO
hoher Kultur 
in sich tragen, und die, von denen 
OO
man solches behaupten darf, sind und waren zu 
OO
allen Zeiten selten.
.Wenn aber die wirklich wertvollen Stilele‐ 
OO
mente, die bereits da und dort zu ersehen sind, 
OO
zu einem neuen Stil in der Malerei ausreifen 
OO
sollen, dann darf der Kunstfreund, für den doch 
OO
alle Kunst geschaffen wird, trotz aller wohlbe‐ 
OO
 
gründeten Abneigung gegen das mitunterlaufende 
OO
Chaotische, seine 
Mitarbeit nicht versagen.
.Diese Mitarbeit aber verlangt in erster Linie 
OO
eine vorurteilslose, willige Einstellung des eigenen 
OO
Einfühlungsvermögens gegenüber den neuen, 
OO
und auf den ersten Blick befremdenden Formen. 
OO
.Man darf sich, will man zu einem 
sicheren 
OO
Urteil kommen, nicht selbst den Weg dazu ver‐ 
OO
sperren durch theoretische Erwägungen, die von 
OO
ganz andersartigen Strebensäußerungen im 
OO
Reiche der Kunst ihre Sanktion empfangen.
.Unsagbar viel ist zu allen Zeiten darüber ge‐ 
OO
schrieben worden, was die Malerei als höchste 
OO
Kunst sein „
soll”, sein „
kann” und sein „
darf”. 
OO
.Künstler stellten die Forderungen, die 
ihr 
OO
eigner Genius an sie stellte, als 
allgemein‐ 
OO
gültige Normen auf, und gelehrte Kunstfreunde 
OO
suchten das, was 
sie selbst am stärksten beein‐ 
OO
druckte, mit allem psychologischen und philoso‐ 
OO
phischen Apparat emporzuschrauben, damit es 
OO
den kommenden Zeiten als hohes Vorbild leuchte. 
OO
.Aber das Schaffen-„
Müssen” echter Künstler 
OO
spottet aller gutgemeinten Ermahnungen, spottet 
OO
des grimmigsten Tadels und der überschwäng‐ 
OO
lichsten Lobeserhebung, weil jeder wirklich be‐ 
OO
rufene, starke Künstler, allen Theorien entrückt, 
OO
 
stets wieder nur nach den 
ihm innewohnenden 
OO
Gesetzen allein gestalten 
kann.
.Sein Werk dient dann vielleicht zum Aus‐ 
OO
gangspunkt für eine 
neue Theorie, die ebenso‐ 
OO
wenig auf 
allgemeine Gültigkeit Anspruch hat, 
OO
wie die 
früheren Theorien.
.Selten nur macht sich der Kunstfreund klar, 
OO
welcher Kunsttheorie seine Liebe zur Kunst und 
OO
sein Urteil unterworfen ist.
.In den meisten Fällen sind seine Kunstfor‐ 
OO
derungen hergeleitet von einem Sammelbecken 
OO
aller erdenklichen Kunst-Theorien, die im 
OO
Laufe der Jahrhunderte entstanden, und deren 
OO
tatsächliche 
Befolgung durch schaffende Künst‐ 
OO
ler stets nur eine matte und kraftlose Epigonen‐ 
OO
kunst zutage förderte.
.Er hat vielleicht viele große Museen alter 
OO
Kunst durchwandert, viele der modernen Aus‐ 
OO
stellungen gesehen, und allerhand kunstgeschicht‐ 
OO
liche Studien hinter sich, so daß er sich nur allzu‐ 
OO
gerne ein gewisses „Kunstverständnis” zutraut, 
OO
und es auch, vielleicht, in gewissem Maße besitzt. 
OO
.Nun ist aber 
Kunst etwas 
Lebendiges, etwas, 
OO
das in stetem Wandel seiner Formen begriffen 
OO
ist, so daß man, auf das bekannte Wort Nietzsches 
OO
anspielend, wohl sagen könnte: „Nur wer sich 
OO
 
wandelt, ist mit ihr verwandt”: ‒ nur wer sich 
OO
in seinem Einfühlungsvermögen stets wandlungs‐ 
OO
fähig zu erhalten weiß, tritt in ein 
inneres, 
OO
lebendiges Verhältnis zur Kunst.
.Der in seine, ihm von außen her überkommene 
OO
Kunst-Theorie verrannte Eigensinnige wird es 
OO
dagegen dulden müssen, daß die Kunst lächelnd 
OO
ihre Bahn weiter schreitet, ob er sie nun erken‐ 
OO
nen mag oder nicht.
.Das Gebiet der freien Kunst läßt sich nicht 
OO
mit Staketenzäunen abgrenzen, und seine Straßen 
OO
sperren keine Schlagbäume.
.Die sich vermessentlich berufen dünkten, seine 
OO
Ausdehnung 
bestimmen zu dürfen, glaubten 
OO
noch zu allen Zeiten, die Kunst 
überschreite 
OO
ihr eigenes Gebiet, wenn sie sich nicht an 
OO
jene Grenzlinien kehrte, die diese Neunmalklugen 
OO
ihr fürsorglich gezogen hatten.
.So spricht man denn auch jetzt noch, gelassen 
OO
und von keinem Zweifel beirrt, zuweilen den 
OO
Satz aus, das Bestreben der neueren Malerei sei 
OO
„eine Überschreitung der 
Grenzen” dieser Kunst. 
OO
.Wenn man aber auch wahrlich nicht in Ver‐ 
OO
legenheit gerät, sobald man ernstlich nach kriti‐ 
OO
schen Waffen sucht, um die heute allerwege 
aller‐ 
OO
neueste Malerei zu 
bekämpfen, wenn auch 
OO
 
Expressionismus und Kubismus keineswegs so 
OO
unangreifbar sind, wie ihre Anhänger in schöner 
OO
Begeisterung glauben, so ist doch gerade der Vor‐ 
OO
wurf der „Grenzüberschreitung” 
diesen Rich‐ 
OO
tungen gegenüber eine recht 
ungeeignete Waffe, 
OO
denn sie fliegt unfehlbar zurück wie ein Bume‐ 
OO
rang, aber durchaus nicht in die 
Hände dessen, 
OO
der sie geworfen hat.
.Abgesehen davon, daß man nur im Banne 
OO
einer bestimmten Ästhetik diesen Vorwurf als 
OO
Tadel auffassen kann, daß er aber ebensowohl, 
OO
‒ ich erinnere hier nur an die Entwicklung der 
OO
Musik seit Beethoven, ‒ von 
anderem Stand‐ 
OO
punkt her gesehen, höchstes 
Lob in sich schließt, 
OO
ist ja gerade die puritanisch strengste Selbstbe‐ 
OO
schränkung auf das 
allerengste Gebiet maleri‐ 
OO
scher Ausdrucksmittel, das 
Kennzeichen der 
OO
neueren Malerei.
.Gerade weil sie in der bisherigen Auffassung 
OO
der Kunst des Malens eine Menge von Kunst‐ 
OO
mitteln in Anwendung sahen, die im 
allerstreng‐ 
OO
sten Sinne 
nicht mehr den Wirkungsmitteln 
OO
zuzurechnen sind, über die nur der Maler 
allein 
OO
verfügt, sehen sich ja die Neueren veranlaßt, nach 
OO
Wegen zu suchen, auf denen sie sich, im 
engsten 
OO
Gebiet ihrer Kunst bleibend, dennoch aussprechen 
OO
können.
 
.Sie erstreben ja nichts Geringeres, als die 
OO
„
absolute Malerei” zu schaffen: ‒ ihr Bild soll 
OO
ein Gebilde sein, frei von jeder Tendenz der 
OO
Naturnachahmung, soll 
nur durch sich selbst, 
OO
durch seine freien Farben und Formen, zu der 
OO
Seele des Betrachters sprechen.
.Man kann die Grenzen der Malerei schlecht‐ 
OO
hin nicht 
enger ziehen, denn die Kunstmittel, 
OO
mit denen es die Malerei unter 
allen Künst‐ 
OO
lern 
allein zu tun hat, sind 
verschieden ge‐ 
OO
formte Farbflecken, die, wenn das Gebilde 
OO
überhaupt zur 
Kunst zu zählen sein soll, in ge‐ 
OO
wisse 
rhythmische Verhältnisse zueinander 
OO
gebracht werden müssen.
.Daß man diese Farbflecken auch so gestalten 
OO
kann, daß durch ihre Anordnung auf der Netz‐ 
OO
haut des beschauenden Auges ähnliche Eindrücke 
OO
hervorgerufen werden, wie wir sie vom Sehen 
OO
der Dinge in der Außenwelt her gewohnt sind, 
OO
ist eine Sache für sich, und gehört in das Gebiet 
OO
der 
möglichen Anwendungsarten der primä‐ 
OO
ren Kunstmittel des Malers.
.Schließlich kann man ja auch Farbflecken 
OO
ohne jede Gesetzmäßigkeit nebeneinandersetzen, 
OO
oder ihre Anordnung, wie bei gewissen Batik‐ 
OO
stoffen, dem 
Zufall überlassen und nur durch ge‐ 
OO
schmackvolle 
Auswahl der 
Farbtöne nachhelfen. 
OO
 
.Den 
allerstrengsten Vertretern gewisser 
OO
neueren Richtungen in der Malerei erscheint nun 
OO
jede Anwendungsart der primären Mittel des 
OO
Malers „unrein” und kunsthemmend, bei der das 
OO
Endresultat noch etwas 
anderes aussagen will, 
OO
als was sich 
allein durch die rhythmische Ver‐ 
OO
teilung und gegenseitige Beziehung der Farb‐ 
OO
flecken und ihrer Formen aussagen läßt.
.Die weniger strengen lassen wohl Reminiszen‐ 
OO
zen an die Dinge der greifbaren Welt noch zu, 
OO
jedoch nur in einer 
Umformung, die aus den 
OO
Gesetzen der primären Mittel und ihrer Aus‐ 
OO
drucksfähigkeiten 
an sich hergeleitet wird.
.Es liegt eine zwingende 
Logik in diesen Rei‐ 
OO
nigungsbestrebungen, mag man die Art, wie sie 
OO
der Einzelne auffaßt, erfreulich finden oder nicht, 
OO
und dieser Logik unterliegen die meisten der 
OO
jungen Maler unserer Tage, so daß sie sich scharen‐ 
OO
weise den neuen Richtungen zuwenden.
.Diese Reformer sind es, die von ihrem 
OO
Standpunkt aus mit vollem Recht fast 
aller seit‐ 
OO
herigen Malerei „Grenzüberschreitung” vorwerfen 
OO
können!
.Demgegenüber bleibt nun aber die Frage 
OO
offen, ob wir uns nicht eines unschätzbaren Reich‐ 
OO
tums in freiwilliger Askese begeben, wenn wir 
OO
 
auf allen 
Sinnenreiz der Außenwelt 
verzich‐ 
OO
ten, und, uns nur in den engen 
Grenzen der 
OO
ureigensten Mittel einer 
Kunst bewegend, 
nichts 
OO
als lediglich abstrakt formalen Ausdruck geben 
OO
wollen?
.Sollen wir uns denn wirklich nur auf ein 
OO
Gestikulieren und auf eine Kunst, die nur 
das 
OO
aussprechen kann, was ihre 
Mittel an sich schon 
OO
erschöpfen, beschränken, oder wird es nicht höher 
OO
führen, wenn wir unsere Mittel dazu erziehen, 
OO
uns in 
allen ihren möglichen Anwendungsarten 
OO
zu 
dienen, auch wenn strengstens dabei ver‐ 
OO
mieden werden muß, sie zu vergewaltigen?
.Ist es dem Maler 
möglich, seine 
primären 
OO
Mittel: die verschieden geformten Farbflecken, 
OO
in rhythmische Beziehung zu setzen, was das 
OO
erste 
Grunderfordernis des Kunstwerkes aus‐ 
OO
macht, und kann er, 
ohne diese rhythmische 
OO
Gestaltung zu 
gefährden, darüber hinaus auch 
OO
andere Saiten in der Seele des Beschauers durch 
OO
subtilere Verwendung seiner Mittel zum Erklin‐ 
OO
gen bringen, so ruft er zweifellos eine 
Verstär‐ 
OO
kung des Erlebens wach, ohne den zugewiesenen 
OO
Bereich seiner Kunstmittel verlassen zu müssen, 
OO
und ohne Anleihen in fremdem Gebiet.
.Die Mitwirkung dieser, 
nicht mit den 
pri‐ 
OO
mären Mitteln seiner Kunst erreichbaren Vor‐ 
OO
 
stellungen darf nur nicht auf Kosten der 
Kunst‐ 
OO
gestaltung, durch ein Umgehen ihrer Gesetze, 
OO
erschlichen werden, darf nicht etwa nur dazu 
OO
dienen, das mangelhafte Beherrschen der primä‐ 
OO
ren Mittel zu verschleiern.
.Jedes wahre Kunstwerk entsteht in einem 
OO
seelischen Zentrum, in dem durchaus keine scharfe 
OO
Scheidung der einzelnen Kunstarten getroffen ist. 
OO
.Erst zur 
Mitteilung bedarf der Künstler ge‐ 
OO
sonderter Mittel in der Außenwelt.
.Der Ring aber schließt sich, indem das so 
OO
entstandene Werk vom 
Genießenden wieder in 
OO
dem 
gleichen seelischen Zentrum 
empfunden 
OO
wird, aus dem es in der Seele des 
Schaffenden 
OO
hervorging.
.So dürfte also der eigentliche bleibende 
Wert, 
OO
den die neueren Bestrebungen auf dem Gebiete 
OO
der Malerei zu erlangen fähig sind, 
nicht dort 
OO
liegen, wo ihn die Verfechter dieser Bestrebungen 
OO
suchen.
.Was diese Künstler, soweit es sich um be‐ 
OO
rufene Schöpfer handelt, mit elementarer Gewalt 
OO
in neue Bahnen zwingt, ist nichts anderes als 
OO
jene Urgewalt der Seele, die sich uns, in dafür 
OO
eigens geschaffenen Gebilden, als 
Kunst offen‐ 
OO
baren will, aber die im Laufe der Jahrhunderte 
OO
 
erwachsenen Darstellungsformen durch allzu große 
OO
Überfeinerung 
kraftlos geworden findet, und sie 
OO
nun zurückschneidet, wenn es sein muß, bis auf 
OO
den Stamm, damit neue, 
kräftigere Äste, 
vollere 
OO
Blüten und 
reichere Früchte sich bilden können. 
OO
.Wir haben also von den neueren Richtungen 
OO
in der Malerei zwar keine 
neue Kunst, wohl 
OO
aber reinere und stärkere 
Ausdrucksmittel zu 
OO
erwarten, und weiterhin neue 
Symbole, die man 
OO
zwar erst 
deuten lernen muß, die aber weit über 
OO
den engen Bezirk der primären Mittel der Male‐ 
OO
rei hinausführen werden, als 
Bildzeichen der 
OO
Seele.
.Man rede uns daher nicht ein, daß ein vom 
OO
Gärtner zurückgeschnittener Obstbaum der In‐ 
OO
begriff aller Schönheit sei, aber man werte diesen 
OO
Baum auch deshalb nicht etwa 
gering, sondern 
OO
warte erst die 
Entwicklung seiner neuen, stär‐ 
OO
keren Triebe ab, warte, bis der Frühling 
Blüten 
OO
bringt und der Sommer schließlich 
reife Früchte 
OO
zeitigt! 
OO
 
.Wenn man die Anfänge bildnerischen Ge‐ 
OO
staltens bei Naturvölkern und in den Malereien 
OO
der Urzeitmenschen betrachtet, lassen sich sehr 
OO
verschiedene Impulse feststellen, die solches 
OO
Schaffen bewirkten.
.Fraglos verdanken die bewegten Darstellun‐ 
OO
gen der Tierwelt, die den Urzeitmenschen um‐ 
OO
gab, wie auch die lebendigen Buschmann-Zeich‐ 
OO
nungen, rein künstlerisch der Freude am 
Wieder‐ 
OO
gebenkönnen der Augeneindrücke ihr Da‐ 
OO
sein, auch wenn es daneben ihr Nützlichkeits‐ 
OO
zweck war, über die dargestellten Tiere einen 
OO
Jagdzauber auszusprechen, während die Malereien 
OO
an einem Fetisch-Tempel im Urwald als reinste 
OO
Ausdruckskunst anzusehen sind.
.Wie hoch sich auch die Kunstübung der 
Kul‐ 
OO
turvölker über die genannten 
primitiven 
OO
Kunstleistungen erheben mag, so lassen sich 
OO
dennoch diese beiden Hauptimpulse künstleri‐ 
OO
schen Schaffens immer wieder feststellen, bis 
OO
auf den heutigen Tag.
 
.Man hat die bildende Kunst gar oft auf ein 
OO
Schmuckbedürfnis zurückzuführen gesucht 
OO
und es scheint tatsächlich, als ob der Wunsch, 
OO
sich selbst oder einen Gegenstand, ein Bauwerk, 
OO
mit Schmuck zu versehen, vielfach der erste 
OO
Anlaß zu künstlerischer Betätigung gewesen 
OO
sei, aber wir gehen zweifellos fehl, wenn wir in 
OO
diesem Schmuckbedürfnis auch die 
innere Ur‐ 
OO
sache zu sehen vermeinen, die den Menschen 
OO
auf die Bahn des Gestaltens in Form und Farbe 
OO
führte. Zwar geht sicherlich das Schmuckbe‐ 
OO
dürfnis mit den bereits genannten Impulsen 
OO
vielfach Hand in Hand, aber es ist nicht, 
für 
OO
sich betrachtet, Ursache künstlerischer Ge‐ 
OO
staltung, auch nicht in deren primitivster Form. 
OO
.Es Iäßt sich überdies die Frage aufwerfen, 
OO
ob der primitive Mensch jemals ein 
reines 
OO
Schmuckbedürfnis 
ohne symbolische Beiwerte 
OO
empfand?
.Ich glaube diese Frage verneinen zu dürfen 
OO
und möchte eher behaupten, daß 
jeglicher 
OO
Schmuck des primitiven Menschen für ihn einen 
OO
symbolischen Wert besitzt. Sobald dann der 
OO
Kunsttrieb in Erscheinung tritt, um das Schmuck‐ 
OO
bedürfnis auf eine höhere Stufe zu erheben, dient 
OO
er in irgend einer Weise zur Ausdeutung sym‐ 
OO
bolischer Werte, wird er Ausdruckskunst: „
Ex‐ 
OO
 
pressionismus”, ‒ oder aber, er benützt den 
OO
zu schmückenden Gegenstand lediglich als Folie, 
OO
als Unterlage, um seiner Darstellungsfreude zu 
OO
genügen: um als reiner „
Impressionismus” die 
OO
Wiedergabe des Augeneindrucks zu versuchen. 
OO
.Expressionismus tritt immer als eine Art 
OO
Geheimsprache auf.
.Wir können die seltsame Ornamentik ma‐ 
OO
layischer oder afrikanischer Fetischtempel nie‐ 
OO
mals recht verstehen, wenn wir nicht wissen, 
OO
welcher Gefühlswert sich für den Menschen 
OO
dieser primitiven Kulturkreise mit den einzelnen 
OO
Formen und Farben verbindet.
.Auch 
unser Expressionismus, soweit er ech‐ 
OO
tem Empfinden entstammt, strebt einer solchen 
OO
„Geheimsprache” zu, nur fehlt ihm die sichere 
OO
Tradition primitiver Völkerschaften, die einheit‐ 
OO
liche Gebundenheit durch allgemein verbreitete 
OO
Glaubensform, so daß die 
Gefahr besteht, eine 
OO
babylonische Kunstsprachen-
Verwirrung 
OO
statt einer 
hieratischen Sprache zu erreichen. 
OO
.Im Gegensatz zum expressionistischen Kunst‐ 
OO
Impuls liegt es dem Impuls zum 
Impressio‐ 
OO
nismus völlig fern, Unsagbares sagen, Urgefühle 
OO
aufregen und Geheimnisse der Seele deuten zu 
OO
wollen. 
OO
 
.Der Urzeitmensch, wie der afrikanische Busch‐ 
OO
mann, ist bei seiner Wiedergabe bewegten Le‐ 
OO
bens von keinem anderen Trieb beherrscht, wie 
OO
der 
moderne Impressionist, den seine Freude 
OO
an der bewegten Erscheinung mit so viel voll‐ 
OO
kommeneren Mitteln und unvergleichlich größe‐ 
OO
rem 
technischen Können zur Darstellung sei‐ 
OO
nes Augeneindrucks führt, mag auch dem primi‐ 
OO
tiven Menschen schon 
jedes Darstellenkönnen 
OO
an sich wie die Ausübung einer magischen 
OO
Kunst erscheinen.
.Aus dieser kurzen Betrachtung ergibt sich, 
OO
daß wir im Grunde alle menschliche Kunstübung 
OO
auf 
expressionistische und 
impressioni‐ 
OO
stische Impulse zurückführen können, ‒ beide 
OO
Worte freilich nicht in dem 
engen Sinne ver‐ 
OO
standen, der ihnen durch neuere und aller‐ 
OO
neueste Künstlergruppen zuteil wurde, ‒ und 
OO
daß 
beide Impulse im menschlichen Kunst‐ 
OO
schaffen am Werk waren von Urzeittagen an.
.Es wird auch in Zukunft nicht anders sein, 
OO
und damit erübrigt sich der Streit, 
welcher 
OO
der beiden Impulse der wertvollere sei, denn 
OO
beide entstammen der gleichen Urtiefe der 
OO
Menschenseele.
.Wohl mag Jahrhunderte lang der eine Im‐ 
OO
 
puls im kunstbegabten Menschen stärker zur 
OO
Auswirkung kommen als der andere, wohl mö‐ 
OO
gen gewisse Kulturströmungen dem 
Impressio‐ 
OO
nismus, andere wieder dem 
Expressionis‐ 
OO
mus günstig sein, doch niemals wird einer der 
OO
beiden Kunst-Impulse völlig verschwinden, und 
OO
dem aufmerksamen Beobachter zeigt sich das 
OO
Wirken 
beider zu 
allen Zeiten, auch wenn 
OO
es auf den ersten Blick scheinen möchte, als sei 
OO
nur der eine vorhanden gewesen.
.Eine verhängnisvolle 
Verirrung aber ist es, 
OO
wenn nun moderne Künstler, in denen der 
ex‐ 
OO
pressionistische Impuls wieder stark nach Ge‐ 
OO
staltung drängt, ihre Anregungen bei der Kunst‐ 
OO
übung 
primitiver Völkerschaften holen zu 
OO
müssen meinen, oder deren Werke gar als Eides‐ 
OO
helfer heranziehen, um eigene abstruse Gebilde 
OO
zu rechtfertigen.
.Es gibt bekanntlich moderne Künstler, deren 
OO
höchstes Ausdrucks-Ideal in der 
Negerplastik 
OO
oder in gewissen 
Malereien der Südseeinsu‐ 
OO
laner sich noch übertroffen fühlt.
.Wenn nun ein derartiger Künstler es glück‐ 
OO
lich soweit gebracht hat, daß sein Werk, dem 
OO
äußeren Anschein nach, seinem Kunstideal an‐ 
OO
nähernd entspricht, dann hat er nichts anderes 
OO
 
getan, als ein Geldfälscher, der eine Banknote 
OO
schlecht nachmacht. Er frage einmal einen 
OO
jener primitiven Menschen des Urwaldes und 
OO
der Koralleninseln, ob dieser sein Gebilde etwa 
OO
für 
echt nimmt, ob er es 
verstehen kann, 
OO
was doch der Fall sein müßte, wenn das, was 
OO
der moderne Europäer der Kunstsprache des 
OO
Primitiven willkürlich entlehnt hat, wirklich die 
OO
Elemente einer, dem 
nicht durch moderne 
OO
Kunstüberfeinerung verdorbenen Menschen ei‐ 
OO
genen Ausdruckssprache in sich enthielte.
.Dem primitiven Menschen ist seine Kunst‐ 
OO
sprache etwas 
genau Bestimmtes, und er würde 
OO
in dem Werk des Europäers nur Willkür sehen, 
OO
während ihm das schlechteste Kunstdruckbild‐ 
OO
chen wenigstens 
verständlich bleibt. Ich weiß 
OO
von einer Erfahrung dieser Art, die mir sehr zu 
OO
denken gab.
.Will der moderne Künstler, der von 
expres‐ 
OO
sionistischen Impulsen ausgeht, wirklich Wert‐ 
OO
volles schaffen, dann darf er nicht die Balken‐ 
OO
kontur malayischer Malereien oder die plump 
OO
dekorative Roheit afrikanischer Götzenbilder als 
OO
Vorbild seiner Kunstsprache wählen, sondern 
OO
muß sich eine Ausdrucksform schaffen, die 
un‐ 
OO
serer europäischen Kultur entspricht, wie 
OO
zu allen Zeiten die expressionistische Kunstbe‐ 
OO
 
tätigung dem künstlerischen Status der Zeit ent‐ 
OO
sprach.
.Archaistische Tendenzen zeigten noch immer 
OO
Zeiten des Niederganges an, besiegelten den 
Ver‐ 
OO
fall der Kunst.
.Man kann aber mit seinen archaisierenden 
OO
Stilübungen gewiß nicht gut weiter gehen, als 
OO
wenn man glaubt, hohe Kunstwerke zu schaffen, 
OO
indem man die primitiven Kunstäußerungen der 
OO
Urwald- und Höhlenmenschen im Stil zu imi‐ 
OO
tieren versucht, wie das viele der als „Expres‐ 
OO
sionisten” heute auftretenden Künstler tun, wäh‐ 
OO
rend gleichzeitig allerdings auch zugleich expres‐ 
OO
sionistische Werke entstehen, die erhoffen lassen, 
OO
daß ihre Urheber den Weg zur Kunst, wie sie 
OO
allezeit war und sein wird, wiederfinden werden. 
OO
.Die Verirrungen neuerer Künstler ins Archa‐ 
OO
ische und Exotische sind nicht etwa, wie man 
OO
irrigerweise annehmen könnte, vom expressioni‐ 
OO
stischen 
Impuls, sondern nur von einem Miß‐ 
OO
brauch ihrer eigenen ‒ von diesen Künstlern 
OO
selbst geschaffenen ‒ expressionistischen Dar‐ 
OO
stellungs-
Methode ausgegangen!
.Es ist die 
Überschätzung der expressionisti‐ 
OO
schen 
Methode durch die dem expressionisti‐ 
OO
schen 
Impuls ergebene Künstlerschaft, die den 
OO
 
verirrten Schaffenden in eine Art Selbsthypnose 
OO
zwingt, und ihn dann glauben läßt: das, was er 
OO
zum Ausdruck zu bringen habe, 
könne nur in 
OO
der Weise primitivster Kunstausübung zur rech‐ 
OO
ten Darstellung gebracht werden.
.Die 
wirklichen „Primitiven” aber, die er 
OO
aus solcher Verwirrung seiner Einsicht heraus 
OO
nachahmt, würden nur 
kindische Unbeholfen‐ 
OO
heit in seinem Werke ausgedrückt finden.
 
.Als 
Cimabues Madonnenbild im Triumph‐ 
OO
zug aus seiner Werkstatt geholt und durch Florenz 
OO
getragen wurde, bevor es an seinen Bestimmungs‐ 
OO
ort kam, konnte keinen Augenblick in dem Künst‐ 
OO
ler ein Zweifel nisten, für 
wen er eigentlich sein 
OO
Werk geschaffen habe.
.Wohl lag auch ihm an der Bewunderung, die 
OO
ihm seine 
Berufsgenossen zollten, aber in 
OO
erster Linie wußte er, daß er sein Werk dem 
OO
Volke gab. Allen denen, die es sehen konnten, 
OO
wollte er Bewunderung entlocken.
.Die Maler späterer Tage sind weniger an‐ 
OO
spruchsvoll geworden.
.Als 
Böcklin einst ein Heft der damals neu‐ 
OO
gegründeten Zeitschrift: „Kunst für Alle” sah, 
OO
ärgerte er sich an dem Titel, weil es eine Kunst 
OO
für alle nicht geben könne, und Cézanne sprach 
OO
es unverhohlen aus, daß Kunst nur immer eine 
OO
Angelegenheit sehr weniger Menschen sei.
.Böcklins Stellungnahme muß heute Verwun‐ 
OO
derung erregen, denn 
seine Kunst will uns 
OO
 
Heutigen so verständlich erscheinen, daß sie wirk‐ 
OO
lich die Charakterisierung als eine Kunst „für 
OO
alle” vertragen könnte.
.Weniger verwunderlich ist uns die Auffassung 
OO
des französischen Malers, denn so hoch er auch 
OO
heute gefeiert werden mag, nachdem er sein 
OO
Leben in relativer Armut verbrachte, so sind es 
OO
verhältnismäßig doch nur sehr wenige, die seine 
OO
Kunst gebührend zu schätzen wissen. Gleich 
OO
ihm aber gibt es heute eine große Anzahl von 
OO
Künstlern, deren Werke nur von sehr wenigen 
OO
verstanden werden, weil ‒ sie eben 
nur für 
OO
sehr wenige ihre Bilder und Statuen schaffen. 
OO
.Wie frei der Künstler auch an die Gestaltung 
OO
seines Werkes herantreten mag, immer steht ein 
OO
idealer Auftraggeber vor seinem Geiste, mag er 
OO
auch dessen irdische Personifikation nur in seiner 
OO
eigenen Persönlichkeit finden. Es ist natur‐ 
OO
gemäß, daß er für 
andere Augen schafft, auch 
OO
wenn nur 
er selbst, als 
Betrachtender, vor 
OO
seinem fertigen Werke diese „anderen Augen” 
OO
repräsentiert.
.Die Künstler 
früherer Tage wollten ganz 
OO
bewußt, daß ihr Werk von 
allen verstanden 
OO
würde, und sie fanden darum in sich die Auf‐ 
OO
gabe gestellt, ihr inneres Müssen, den überintel‐ 
OO
lektuellen Trieb zum künstlerischen Schaffen, in 
OO
 
Einklang zu bringen mit den Erfordernissen, die 
OO
das allgemeine 
Verständnis heischte.
.Wer aber wollte behaupten, daß 
Phidias der 
OO
Menge „unkünstlerische Konzessionen” gemacht 
OO
habe, oder daß 
Giotto auf die von ihm er‐ 
OO
kannten Kunstgesetze nicht geachtet hätte, nur 
OO
um der Masse zu gefallen, ‒ und doch sind die 
OO
Werke der alten Kunst durchweg selbst dem in 
OO
Kunstdingen Ungebildetsten 
verständlich, 
OO
wenn sie auch das, was 
ihre höchste Schön‐ 
OO
heit ausmacht, erst einem reichentwickelten 
OO
Kunstgefühl offenbaren.
.Die Künstler 
neuerer Zeit hingegen haben 
OO
sich immer mehr und mehr Sonderinteressen zu‐ 
OO
gewandt: Darstellungsproblemen, die zwar im 
OO
Bereich der Werkstatt sehr „
interessant” 
OO
bleiben, die aber niemals das echte Interesse der 
OO
Allgemeinheit finden können, eben weil es 
OO
sich nur um 
Experimente handelt, deren Wert 
OO
bestenfalls nur 
in der eigenen Förderung 
OO
des Künstlers liegt. Ich stehe nicht an zu be‐ 
OO
haupten, daß drei Viertel (wenn nicht mehr) 
OO
unserer ganzen heutigen Kunstproduktion aus 
OO
solchen Werkstatt-Experimenten besteht, denn 
OO
die Künstler haben das Interesse, das man diesen 
OO
Studienmitteln entgegenbrachte, derart zu ihrem 
OO
eigenen Schaden umgedeutet, daß sie zumeist 
OO
 
gar nicht mehr über das Experiment hinaus 
OO
wollen. Es genügt ihnen um den Schaffenstrieb 
OO
oberflächlich zu befriedigen, und sie verlangen 
OO
nun von ihren Zeitgenossen, daß sie mit dem 
OO
Gegebenen sich abfinden und darin die 
höchste 
OO
Leistung der Künstler sehen sollen.
.Daß hier eine grenzenlose Verirrung vorliegt, 
OO
wird nur dem nicht klar, der bereits bis zum 
OO
Rausch von den Weihrauchwolken umnebelt ist, 
OO
die durch zahllose, 
selbst in tiefer Hypnose 
OO
redende Wortführer dieser Experimentier-Me‐ 
OO
thode, der neueren Kunst dargebracht werden. 
OO
.Die Sammelnamen für die neueren Kunst‐ 
OO
bestrebungen besagen nichts Zwingendes, denn 
OO
jede „Richtung” teilt sich wieder in zahllose 
OO
Unter- und Seitenrichtungen, weil das 
Experi‐ 
OO
ment, auf dem alles ruht, bis ins Unendliche 
OO
variabel ist. In jedem Künstler kann es andere 
OO
Formen finden, und doch macht jeder im Grunde 
OO
das Gleiche, so daß für den Beschauer, der ein‐ 
OO
mal über das erste Sensationsgefühl hinaus ge‐ 
OO
langte, nichts Langweiligeres existiert, als die 
OO
Ausstellungen dieser allezeit Aller-Modernsten, 
OO
die jetzt in allen Kunstzentren haufenweise zu 
OO
sehen sind.
.In einzelnen solcher Arbeiten finden sich hie 
OO
und da noch Spuren einer fast gewaltsam be‐ 
OO
 
haupteten Individualität Einzelner, aber bei den 
OO
meisten Werken könnte man ruhig die Namen 
OO
vertauschen, denn es handelt sich ja kaum mehr 
OO
um Schaffensprodukte bestimmter 
Persönlich‐ 
OO
keiten, sondern nur um Mitarbeit an den Be‐ 
OO
strebungen eines Kollektivwillens zum bloßen 
OO
Experiment.
.Als 
Durchgangs-
Phase könnte dieses Aus‐ 
OO
toben in Experimenten den 
Künstlern gewiß 
OO
von Nutzen sein, denn sie lernen dadurch die 
OO
unendlichen Möglichkeiten kennen, die ihnen 
OO
ihr Ausdrucksmaterial bietet, aber der Leid‐ 
OO
tragende bei der heutigen Verhimmelung der‐ 
OO
artigen Tuns wird der in die Hypnose mitgeris‐ 
OO
sene 
Kunstfreund, der 
Käufer, bis er ent‐ 
OO
weder selbst eines Tages zur Einsicht kommt, 
OO
daß er Werkstatt-Experimente teuer bezahlte, wo 
OO
er höchste Kunst zu erwerben vermeinte, oder 
OO
bis seine enttäuschten Erben einst die betrübliche 
OO
Entdeckung machen müssen, daß kein Mensch 
OO
mehr auch nur ein Zehntel der einst gezahlten 
OO
Summen für diese Kuriosa geben mag.
.Kunst ist und bleibt, trotz andersartiger Auf‐ 
OO
fassung Einzelner, eine Sache der 
seelischen 
OO
Gemeinsamkeit.
.Aus dem allgemeinen Fond an Kultur eines 
OO
 
Volkes, eines Landes, einer Stadt selbst, zieht 
OO
sie ihre Nahrung, und rückwirkend beeinflußt, 
OO
hebt und fördert sie wieder diese Kultur, oder 
OO
drückt sie hinab ins Banale und Gemeine.
.Im wünschenswerten 
günstigen Falle be‐ 
OO
deutet das Kunstschaffen einer Zeit eine 
Wert‐ 
OO
steigerung der aus der Gesamtkultur gezogenen 
OO
geistigen Kräfte, wie es zur Zeit der alten Grie‐ 
OO
chen, zur Zeit der Renaissance in Italien war, 
OO
‒ im 
ungünstigen Falle aber, und der liegt 
OO
im großen und ganzen 
heute vor, bedeutet die 
OO
künstlerische Produktion geradezu eine Vernich‐ 
OO
tung geistiger Werte.
.Wer daran zweifelt, der lese die exaltierten 
OO
Ergüsse moderner Kunst-Snobs, allwo sie vor 
OO
Negerplastik und vor Malereien, die tief unter 
OO
der Malerei der Urzeitmenschen stehen, einen 
OO
wahren Veitstanz der Begeisterung aufführen, 
OO
während sie deutlich zu verstehen geben, daß 
OO
die göttlichen Werte höchster Kunst ihrem per‐ 
OO
versen Empfinden längst nicht mehr zugänglich 
OO
sind.
.Es gibt kein Mittel, gegen diese Verirrungen 
OO
anzukämpfen, als das eine, daß sich der Kunst‐ 
OO
freund 
wach erhält, sich ganz entschieden 
wei‐ 
OO
gert, der heutigen Kollektiv-Hypnose auf künst‐ 
OO
lerischem Gebiet zu verfallen, trotz all der Flut 
OO
 
neuer Bücher und Zeitschriften, die ihn einen 
OO
„Banausen” schelten, wenn er nicht schleunigst 
OO
sich bekehre und zu den neuen Göttern bete. 
OO
.Wir 
müssen wieder zu einer Kunst kommen, 
OO
die wirklich eine 
Kunst für alle ist.
.Kunst muß wieder 
Angelegenheit des 
OO
ganzen Volkes werden.
.Freilich nicht in dem Sinne, daß sie ihre 
OO
heiligen Gesetze verleugnet, um dem Unge‐ 
OO
schmack der Menge zu gefallen, denn eine so‐ 
OO
genannte „Kunst” 
dieser Art, die sich ja leider 
OO
noch an allen Straßenecken breit macht, ist viel 
OO
verwerflicher als selbst die zum Ideal erhobene 
OO
Hottentottenkunst.
.Die Kunst, die wir brauchen, muß aus dem 
OO
Besten schöpfen, was in der Volksgemeinschaft 
OO
lebt, und dieses Beste dem Volke in geläuterter 
OO
künstlerischer Form darbieten, als Spiegel seiner 
OO
Seele.
.Experimente gehören in die 
Werkstatt des 
OO
Künstlers, und wenn er sie schon zeigt, sollen 
OO
sie auch als 
Experimente, und 
nur als solche, 
OO
bezeichnet werden! Darüber hinaus aber brauchen 
OO
wir Werke, die wie in jeder großen Kunst- und 
OO
Kulturperiode 
allen verständlich sind, wenn 
OO
 
auch immer nur die künstlerisch Gebildeten ihre 
OO
höchste Schönheit zu fassen vermögen.
.Was die marktschreierische Experimentier‐ 
OO
kunst unserer Tage aber bei ihren Anhängern 
OO
finden will, ist nichts weniger als wirkliches 
OO
„Kunstverständnis”. Sie braucht nur halbzer‐ 
OO
rüttete Nervenbündel, die sich widerstandslos 
OO
jeglicher Suggestion durch die brutalsten sinn‐ 
OO
lichen Mittel unterwerfen.
.Ihre Anhänger gebärden sich, als ob sie allein 
OO
über das rechte Kunstverständnis verfügten, sie 
OO
schwatzen von der Befreiung des 
Geistes, wäh‐ 
OO
rend sie vor Idolen knien, die ebenso tief unter 
OO
den erhabenen Werken vom Geiste erfüllter 
OO
Kunstperioden stehen, wie der Fetisch eines Wil‐ 
OO
den tief unter dem Kultbild steht, das einst im 
OO
Parthenon Verehrung fand.
 
.Das Wort „Dilettantismus” ist bei uns sehr 
OO
in Mißkredit gekommen. Man hört zum mindesten 
OO
lieber die Verdeutschung und spricht von „Lieb‐ 
OO
haberkunst”. Aber „im Deutschen 
lügt man, wenn 
OO
man höflich ist”, und unsere deutsche Sprache 
OO
ist immerhin kräftig genug, um ein paar Fremd‐ 
OO
worte vertragen zu können, die schlechthin 
OO
Begriffe bergen, mit denen sich das deutsche 
OO
Wort 
nicht deckt, wie das nun einmal bei 
OO
der Verdeutschung des Wortes „Dilettantismus” 
OO
der Fall ist.
.„
Liebhaberkunst” besagt 
mehr als „Dilettan‐ 
OO
tismus”, denn „Liebhaberkunst” kann wirkliche 
OO
Kunst sein, ‒ nur wird mit dem Worte gesagt, 
OO
daß ihr Schöpfer nicht zu den 
Berufskünstlern 
OO
zählt, ‒ während es 
völlig ausgeschlossen ist, 
OO
daß das Werk eines „Dilettanten” jemals den Rang 
OO
eines wirklichen 
Kunstwerks beanspruchen darf. 
OO
.Ich habe mit Absicht diese Erörterung mit dem 
OO
Worte „Dilettantenkunst” überschrieben, nicht, 
OO
weil ich etwa hier von der „Kunst” reden will, 
OO
 
die in dem Erzeugnis eines „Dilettanten” stecken 
OO
könne, sondern: ‒ weil ich diesem bösen Wort 
OO
den Garaus machen möchte.
.So wenig nun aber auch durch dilettantische 
OO
Betätigung jemals „
Kunst” entstehen kann, so 
OO
sehr ist es Unrecht, allen „Dilettantismus” in 
OO
Bausch und Bogen geringschätzig anzusehen. Ver‐ 
OO
werflich ist „Dilettantismus” lediglich dort, wo er 
OO
nicht hingehört, und man kann einem Berufs‐ 
OO
künstler keinen schlimmeren Vorwurf machen, 
OO
als wenn man sagt, sein Werk sei „dilettantisch”. 
OO
.Man drückt damit aus, daß es als Kunstwerk 
OO
unzulänglich ist, daß es sich nur mit den glei‐ 
OO
chen 
Handwerksmitteln hervorgebracht er‐ 
OO
weist, mit denen man auch ein wahres Werk der 
OO
Kunst hätte schaffen können, daß es aber besten‐ 
OO
falls nur Geschmack und Fleiß verrät, keineswegs 
OO
jedoch die spezifisch 
künstlerische Begabung. 
OO
.Das „dilettantische” Werk eines Berufskünst‐ 
OO
lers wird jeder Kenner 
ablehnen, wohl aber 
OO
wird er unter Umständen seine 
Freude an dem 
OO
liebevollen Erzeugnis irgend eines „Dilettanten” 
OO
haben können.
.Das Erzeugnis des Dilettanten ist nur dann 
OO
schlecht, wenn es selbst unter der 
mäßigen 
OO
Begabungsgrenze bleibt, die überhaupt erst zu 
OO
 
irgend einer dilettantischen Betätigung ein 
Recht 
OO
gibt, oder aber, ‒ wenn es zeigt, daß sich der 
OO
Dilettant gern als „
Künstler” gewertet sehen 
OO
möchte, ‒ wodurch es 
auch als Dilettantismus 
OO
unzulänglich wird.
.Es gibt ganz reizende Dilettantenarbeiten aus 
OO
der Zeit unsrer Groß- und Urgroßeltern, und diese 
OO
gezeichneten oder aquarellierten Blättchen bilden 
OO
heute das Entzücken eines jeden Sammlers, so 
OO
wie sie auch damals schon allenthalben Freude 
OO
bereitet haben, und sehr sorglich in Ehren ge‐ 
OO
halten wurden.
.Eine ganze Reihe von illustrativ begabten 
OO
Künstlern unserer Tage hat den eigenartigen Reiz 
OO
solcher preziösen Blättchen zum Ausgangspunkt 
OO
für einen oft recht ansprechenden 
Illustrations‐ 
OO
Stil genommen. Wahrlich die beste Anerkennung, 
OO
die sich ein „Dilettant” nur wünschen kann!
.Ich bezweifle aber sehr, daß in hundert Jahren 
OO
kommende Illustratoren 
irgend etwas unter den 
OO
Erzeugnissen 
heutiger Dilettanten finden wer‐ 
OO
den, das ihnen in irgend einer Hinsicht stilistische 
OO
Anregung geben könnte.
.In jenen alten, bedächtigeren Zeiten freute 
OO
man sich, wenn man etwas geschmackvoll Sinni‐ 
OO
ges in zierlicher Art mit Bleistift aufzuzeichnen 
OO
 
wußte, und wenn es hoch kam, suchte man mit 
OO
zarten Wasserfarben eine gewisse „Stimmung” 
OO
zu erzielen. Aber es 
gelang! Es wurde stets etwas 
OO
Rechtes draus, weil keiner dieser „Dilettanten” 
OO
sich heimlich für einen „Künstler” hielt, und 
OO
weil keiner etwas versuchte, was 
über seine 
OO
Kräfte hinausging.
.Zum Teil lag das auch an der damaligen 
OO
Kunst.
.Man sah viel zu deutlich, daß man es mit einem 
OO
„Künstler” nicht aufnehmen könne.
.Als dann später das Handwerk des Malers ro‐ 
OO
bustere Züge annahm, als schließlich die pastose 
OO
„Prima”-Malerei, das Malen Naß in Naß, und in 
OO
einer skizzenhaften, mehr andeutenden als durch‐ 
OO
führenden Art, in der Künstlerwelt Einzug hielt, 
OO
da glaubte der Dilettant nicht mehr recht Grund 
OO
zu haben zu seiner früheren Bescheidenheit. Die 
OO
Sache schien ihm „gar nicht so schwer”, er sah 
OO
nur das Alleräußerlichste, und so versuchte er 
OO
nun frischweg und mit einer durch keinerlei 
OO
künstlerische Bedenken gedämpften Courage „in 
OO
Öl” draufloszumalen und verlor auf diese Weise 
OO
jeden festen Halt, verlor das Beste, ‒ 
den guten 
OO
Geschmack.
.Aber muß das so bleiben?
 
.Können wir nicht diesem Strom des Unrats 
OO
endlich 
Einhalt tun und den Tätigkeitstrieb des 
OO
Dilettanten wieder in 
gesunde, seiner Art gemäße 
OO
Bahnen lenken??
.Tun wir es 
nicht, dann bildet die eben er‐ 
OO
keimende neue Sonderkunst seelischer Ausdrucks‐ 
OO
werte für den Dilettanten eine 
neue Gefahr, die 
OO
nicht unterschätzt werden darf.
.Das rechte Material des Dilettanten, ‒ zumeist 
OO
dürfte ja die 
weibliche Form des Wortes in 
OO
betracht kommen, ‒ wird stets nur aus „Formen 
OO
und Farben” bestehen können, 
die er selbst 
OO
intensiv in seiner Umwelt erlebt.
.Alle 
Reminiszenzen an vorhandene 
Kunst 
OO
sind ihm 
gefährlich!
.Die Weite der Landschaft an einem Aussichts‐ 
OO
punkt, der Feldstrauß, den er sich von einem 
OO
Ausflug mitbringt, die Innenräume seines Hauses, 
OO
und vielleicht auch, soweit Porträtbegabung vor‐ 
OO
liegt, die Züge der Menschen, die ihm nahe und 
OO
vertraut sind, ‒ 
das sind die Gebiete, auf denen 
OO
ein gesunder, berechtigter und 
erfreulicher 
OO
Dilettantismus gedeihen kann.
.Will er sich dort, wo er selbst in der Dar‐ 
OO
stellung nicht weiter weiß, einmal Rat und Hilfe 
OO
suchen, so bergen Museen und Sammlungen ge‐ 
OO
nügend Material, an dem er lernen kann, wie 
OO
 
etwas darzustellen ist, ‒ aber nur, wenn er sich 
OO
an Meister der 
allereinfachsten Darstellungs‐ 
OO
arten halten will, wird er Ersprießliches nach 
OO
Hause bringen.
.Mit keinem Worte scharf genug zu brand‐ 
OO
marken ist natürlich alles Malen oder Zeichnen 
OO
nach „Vorlagen”. Hier muß 
zuallererst gebro‐ 
OO
chen werden! Der Dilettant, der etwas auf sich 
OO
hält, muß wissen, daß ein simpler Halm, den er 
OO
empfindend wiederzugeben weiß, 
hoch über der 
OO
farbenbuntesten „Vorlage” steht, die er in mühe‐ 
OO
voller Arbeit nachzupinseln unternimmt.
.Das Wecken der 
Empfindungsfähigkeit 
OO
des Auges ist der höchste Zweck, den er ver‐ 
OO
folgen muß.
.Wer so an 
Formen der Natur sein Auge 
OO
bildet, der wird auch für die Werte, die im 
Kunst‐ 
OO
werk ruhen, sich empfänglich machen, und seine 
OO
Ehrfurcht vor der Kunst wird ihm verbieten, 
OO
jemals noch von 
Kunst zu reden, wo nur heiteres 
OO
Spiel in anmutfrohen Formen vorliegt, wenn das 
OO
Beste wurde, was der „Dilettant” zu geben hat. 
OO
 
.„
Raffael von Urbino, geboren am 26. März 
OO
(Karfreitag) 1483 zu Urbino, gestorben am 6. 
OO
April (Karfreitag) 1520 zu Rom.” So überschreibt 
OO
der berühmte Maler-Biograph der Renaissance, 
OO
Giorgio Vasari, in seinem „Leben der Maler” 
OO
die Lebensbeschreibung 
Raffael Santis, und 
OO
er legt sichtlich Wert darauf, daß dieser, wie 
OO
eine Erscheinung aus einer Überwelt wirkende 
OO
Künstler-Genius, der nur ganze siebenunddreißig 
OO
Jahre auf dieser Erde lebte, geheimnisvollerweise 
OO
an einem 
Karfreitag sein Erdendasein begann 
OO
und an einem 
Karfreitag wieder von der Erde 
OO
genommen wurde.
.Für jene Zeit, in der die fortgeschrittensten 
OO
Geister die Mysterien der Astrologie zu ergrün‐ 
OO
den suchten, konnte dieses seltsame Zusammen‐ 
OO
treffen beider Tage kein „Zufall” sein, zumal 
OO
für ihre Anschauung alles, was am Karfreitag 
OO
geschah, von seiner geglaubten tiefen mystischen 
OO
Bedeutung im Hinblick auf das Geschick dieses, 
OO
unsres Planeten, erfüllt sein mußte.
.Die bezaubernde Wirkung der Erschei‐ 
OO
nung 
Raffael Santis aus Urbino auf seine 
OO
 
Zeitgenossen spiegelt sich in den Worten Vasa‐ 
OO
ris, wenn er schreibt: „Gewiß kann man sagen: 
OO
wen so reiche Gaben schmücken, der sei nicht 
OO
nur schlechthin ein 
Mensch, sondern wenn der 
OO
Ausdruck erlaubt ist, ein 
sterblicher Gott zu 
OO
nennen”... „Niemals ging er zu Hofe (dem 
OO
Hofe der Päpste), ohne daß er, vom Ausgehen 
OO
aus seiner Wohnung an, ein Gefolge von fünfzig 
OO
Malern gehabt hätte, ‒ alles gute und tüchtige 
OO
Maler, ‒ die ihm das 
Ehrengeleite gaben; er 
OO
lebte überhaupt nicht als 
Maler, sondern als 
OO
Fürst.” Und Vasari wird nicht müde, die 
hin‐ 
OO
reißende Liebenswürdigkeit, wie den 
Adel 
OO
dieser Seele zu betonen, die es jedem unmög‐ 
OO
lich machten, in Raffaels Gegenwart auch nur 
OO
ein „ungeziemendes Wort” zu gebrauchen.
.Aber dieser bewunderungswürdige 
Mensch, 
OO
dieser unvergleichliche 
Künstler war zugleich 
OO
ein geborener 
Organisator, der es vorzüglich 
OO
verstand, alle die reichen Kräfte seiner Zeit dem 
OO
Werke dienstbar zu machen, das er der Welt 
OO
hinterlassen sollte.
.Die prachtliebenden Päpste 
Julius der Zweite 
OO
und 
Leo der Zehnte schaffen, in Bewunderung 
OO
gebannt, die nötigen 
Mittel und 
Gelegenhei‐ 
OO
ten zur Betätigung seiner großen Kunst, seine 
OO
zahlreichen 
Schüler beugen sich willig seiner 
OO
Leitung, um den weit über die Kräfte eines 
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Einzelnen umfangreichen Plänen ihres jungen 
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Meisters sichtbare Gestaltung zu verleihen, und 
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bis nach Griechenland schickt er seine Zeichner 
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aus, die ihm das Studienmaterial, dessen er be‐ 
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darf, zu verschaffen haben. Unablässig ist er 
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bemüht, zu 
lernen und das Gelernte in seiner 
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Weise zu verwerten. Jede Quelle der Anregung 
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muß sich ihm erschließen.
.Man kannte zu jener Zeit in der Kunst noch 
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nicht das ängstliche Bestreben unserer Tage, das 
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jeden Künstler dazu zwingt, von allen, die 
vor 
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ihm schufen und 
neben ihm wirken, möglichst 
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weit 
abzurücken, damit man nur ja seiner 
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Originalität gewahr werde. Man wollte nicht, 
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gleich den Heutigen, das Einmaleins der Kunst 
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stets wieder von neuem erfinden.
.Bewußt des eigenen Wertes, stand man fest 
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auf den Schultern seiner Vorgänger, und es 
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wurde einem Künstler zum höchsten 
Ruhme 
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angerechnet, wenn er das Beste seiner Zeitge‐ 
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nossen in sein Werk zu übernehmen verstand. 
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.Man kann nicht sagen, daß diese Art Gemein‐ 
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samkeit in der Kunst ihr zum Schaden gereicht 
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hätte!
.Auch das Genie 
Raffaels war nicht „vom 
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Himmel gefallen”, und sein Biograph zählt mit 
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Stolz die Namen aller derer auf, von denen er zu 
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lernen, denen er „nachzueifern” suchte, um sie 
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schließlich alle durch seine 
eigene Anmut und 
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Vollkommenheit zu übertreffen.
.Nur so aber konnte auch jene 
abgeklärte 
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Harmonie erstehen, die aus den Werken die‐ 
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ses Künstlers strahlt, die sein eigenes Jahrhun‐ 
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dert überstrahlte und die den Werken seines 
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Geistes jene göttergleiche 
Heiterkeit verleiht 
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für alle Zeiten, jene Heiterkeit, die ein kleines 
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und allzu erdgebundenes Geschlecht als „Leere” 
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und „Mangel an seelischer Tiefe” auszulegen 
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suchte.
.Doch darf man nicht etwa glauben, der Künst‐ 
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ler, der in einer solchen Welt der idealen Schön‐ 
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heit geistig heimisch war, sei 
erdenfern, der 
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Welt, 
die ihn umgab, 
entrückt gewesen! Er 
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stand mit beiden Füßen 
fest auf dieser Erde 
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Boden! Seine eigenen Briefe beweisen aufs 
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deutlichste, wie sehr er, ‒ darin seinem an ge‐ 
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waltiger Kraft überlegenen Zeitgenossen 
Michel‐ 
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agniolo Buonarotti nur allzu ähnlich, ‒ auch 
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den Wert des 
Geldes zu schätzen wußte, und 
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wie wichtig ihm seine 
glänzende Stellung, 
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seine äußeren 
Ehren waren.
.Allerdings strömten ihm Gold und Ehrungen 
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in so reichlicher Fülle zu, daß es ein Wunder 
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gewesen wäre, hätte der Sohn eines armen klei‐ 
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nen Malers aus der Provinz diese Anerkennung 
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seiner Begabung nicht mit hohem wertbewußtem 
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Stolz empfunden.
.Wenn man nun 
heute der Kunst Raffaels 
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gerechten Sinnes gegenübertreten will, ‒ nicht 
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viele 
wollen es! ‒ dann ist zuerst die üble 
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Wirkung jener grauenhaften Popularisierung zu 
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überwinden, die sein Werk im letzten Jahrhun‐ 
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dert erfahren mußte. Vom Bierglasdeckel, der 
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die „Madonna della Sedia” profanierte bis hin‐ 
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auf zu so manchem „raffaelesken” Kirchenbild 
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der alten Düsseldorfer Schule, war alles dazu 
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angetan, das Werk eines Unvergleichlichen zu 
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schänden, und das Auge für die 
wahre Schön‐ 
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heit seiner 
originalen Bilder stumpf und un‐ 
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empfänglich werden zu lassen.
.Es ging ihm hier mit seinen 
Madonnen, 
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wie es manchem der romanischen Komponisten 
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mit 
Opern-
Melodien ergeht: man kann sie in 
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jenen Ländern nicht mehr unbefangen hören, 
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weil sie in jeder Gasse eine andere Drehorgel 
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in stets wieder neuer Verzerrung dem Fremdling 
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in die Ohren kreischt.
.Für viele der heutigen Menschen hat auch 
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der 
Zeitgeschmack ein reines und hingege‐ 
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benes Genießen raffaelischer Werke fast unmög‐ 
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lich gemacht.
.Rembrandt sagt ihnen 
mehr, weil sie 
selbst 
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dem Leben nicht als 
souveräne Beherrscher, 
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sondern als 
ringende Beherrschte gegenüber 
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stehen und darum die allerwege 
mit dem Le‐ 
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ben ringende Kunst 
Rembrandts tiefer 
be‐ 
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greifen.
.Es wird einer 
kommenden Zeit vorbehalten 
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bleiben, jene 
überweltliche Region wieder 
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geistig zu erobern, aus der das Genie 
Raffaels 
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seine unsterblichen Intuitionen empfing, jene 
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göttliche Klarheit wieder empfinden und lie‐ 
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ben zu lernen, in der seine Gestalten ein Dasein 
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über aller Erdenschwere führen, jene formgewor‐ 
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dene 
Mathematik der Seele zu erfassen, die 
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in den Kompositionen dieses übermenschlich 
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klaren Geistes, dem zu ihrer Ergründung Be‐ 
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fähigten, ihre tiefsten Geheimnisse enthüllt.
.Er strebte, wie die Antike, 
absoluter Voll‐ 
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kommenheit zu. Er gab die abgerundete 
Ge‐ 
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schlossenheit seiner innerlich geschauten Welt. 
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.Der Mensch der heutigen Zeit aber 
haßt 
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beinahe das „Vollkommene”, weil es ihm „
un‐ 
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wahr” erscheint, gegenüber der eigenen 
bruch‐ 
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stückhaft empfundenen Natur.
 
.Die Menschen der Renaissance waren gewiß 
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von Natur aus nicht anders als wir, aber ‒ 
sie 
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strebten 
über diese ihre Naturgegebenheit hin‐ 
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aus, 
empor zu einer nur geahnten Höhe mensch‐ 
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licher 
Größe und 
Kraft. Sie wollten 
mehr 
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sein, als sie „von Natur aus” waren, und so 
er‐ 
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schufen sie sich selbst, wie wir sie staunend 
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und bewundernd in der 
Kunst ihrer Zeit ge‐ 
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wahren.
.Was die Natur ihm mitgegeben hatte, war 
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dem Menschen jener Zeit nur 
rohes Material, 
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aus dem er 
selbst sich erst zum 
Kunstwerk 
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zu gestalten suchte.
.Wir aber sind genügsamer und auch ‒ be‐ 
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quemer geworden. Wir sind schon froh, wenn 
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wir uns recht „natürlich” geben können, und 
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alle 
Form ist uns stets mehr und mehr ent‐ 
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schwunden. Jedoch die unterdrückte Fähigkeit 
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zu formen, was der Form bedarf, läßt sich nicht 
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dauernd binden.
.So mag es leicht möglich sein, daß unsere 
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späten Enkel eine 
neue Renaissance erleben, 
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wie jene zu der Zeit der großen Päpste, und 
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daß dann die 
Vollkommenheit, nach der das 
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Leben damals strebte, mit 
neuer Kraft zum 
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Lebensideal erhoben wird. Dann wird aber ge‐ 
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rade die Kunst 
Raffaels den spätern Geschlech‐ 
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tern wie ein hoher Meilenstein erscheinen, der 
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wie die Kunst der 
Antike, den Weg in die 
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Unendlichkeit bezeichnet, aber 
nicht den 
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Weg ins Chaos, ins „
Grenzenlose”, den heute 
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noch die meisten gehen.
.Kunst ist Manifestation einer Weltan‐ 
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schauung.
.Wir Heutigen aber leiden alle mehr oder 
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weniger an einer Weltbilderklärung, die das 
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„
Grenzenlose” als 
Axiom aufstellte und es 
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mit dem 
Unendlichen verwechselte.
.Wir müssen erkennen lernen, daß 
das Welt‐ 
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bild der Renaissance, aus dem Raffael seinen 
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Formen-Kanon schuf, einem 
Wellenberge der 
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Entwicklung menschlichen Denkens sein Dasein 
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dankte, während wir, von 
der überragenden Ge‐ 
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stalt 
Goethes in ihrer erhabensten Selbstdarstel‐ 
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lung abgesehen, die letzten Jahrhunderte hindurch 
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in einem 
Wellental verharrten, so sehr wir auch 
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auf unseren „
Fortschritt” pochten.
.Doch, endlich werden auch 
wir wieder auf 
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eine Wellen-
Höhe gelangen, denn 
alle geistige 
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Entwicklung geht in stets belebten 
Krümmun‐ 
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gen voran, und 
nicht in jener schnurgeraden‐ 
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Linie, die sich die Apostel des „ewigen Fort‐ 
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schritts” irrtümlich erträumten.
 
.Wer 
Raffaels Kunst als Ausdruck einer 
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wahreren Erkenntnis, als es die 
unserer Zeit 
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ist, betrachten mag, wer erkennt, daß sie der 
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wirklichen geistigen 
Weltstruktur entspricht, 
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und wer dann von diesem 
Ewigkeits-Standpunkt 
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aus ein 
Originalwerk, wie etwa die von den 
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Kunst-Snobs so verächtlich gering geschätzte „
Six‐ 
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tinische Madonna” auf sich wirken läßt, der 
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wird vielleicht mit einiger Ergriffenheit in sich er‐ 
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fahren, daß diese Größe, der in Anmut und Ge‐ 
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schlossenheit sich selbst begrenzenden Kraft einer 
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Kunst ‒ 
Urewiges enthält, das 
leben bleiben 
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wird, wenn längst „
Titanenkraft”, wie wir sie 
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heute so bedenklich 
höher schätzen, ‒ ‒ auf‐ 
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gelöst in Götterdämmerung und Chaos-Nacht ver‐ 
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sunken ist.
.Ihm wird vielleicht ein leises Ahnen eine Zeit 
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verkünden, die 
nicht Madonnen malen wird und 
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dennoch wieder auf den Bahnen dieses abge‐ 
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klärten, 
harmonieerfüllten Überwelt-Be‐ 
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reiches zu wandeln weiß, weil sie die Welt als 
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homogenes Ganzes faßt, wie sie in 
anderer 
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Form das frühere Geschlecht erfaßte, dessen 
OO
schönste Blüte „
Raffael von Urbino” war.
 
ENDE